Washington. . Einmal im Jahr hält der amerikanische Präsident seine Ansprache zur Lage der Nation. Wenn Barack Obama in der Nacht zu Mittwoch vor die beiden Häuser des US-Kongresses tritt, will er die Konturen für die Wahl im November schärfen.

Thomas Jefferson war das ganze Trara zuwider. Anstatt sich dem in Artikel 2 der amerikanischen Verfassung festgelegten Ritual zu fügen, wonach der Präsident den Kongress „von Zeit zu Zeit“ über seine Politik zu unterrichten hat, ließ das dritte Staatsoberhaupt der Vereinigten Staaten einen schriftlichen Bericht an die Abgeordneten verteilen. Dieser Umgang mit der „State of the Union Adress“, die am Dienstagabend erneut weit über 50 Millionen Amerikaner vor die Fernsehgeräte locken wird, hat sich nicht durchgesetzt. Im digitalen Medienzeitalter haben seit 1913 alle Präsidenten die Chancen genutzt, vor dem größtmöglichen Publikum ihre Leitlinien auszubreiten und sich direkt an das Volk zu wenden.

Naturgemäß nicht zur Zufriedenheit aller. Mit Verweis auf den National-Dichter Walt Whitman bezeichnen Kritiker das einer ausgeklügelten Dramaturgie folgende Prozedere als folgenlosen „Gesang von mir selbst“. Gegen 20.30 Uhr Ostküstenzeit wird Barack Obama vom Weißen Haus aus die Pennsylvania Avenue hinauf ins Kapitol fahren. Auf ihn warten die feierlich versammelten Senatoren und Kongressabgeordneten von Demokraten und Republikanern, die höchsten Richter und Militärs des Landes und einige ausgesuchte Normalmenschen, die sich im vergangenen Jahr durch vorbildliches Staatsbürgertum hervorgetan haben.

Der parteiübergreifende Beifall gilt dem Amt, nicht der Person

Nähert sich der Gast des Abends, der nur an diesem Tag vor dem Kongress offizielles Rederecht hat, bittet der Saaldiener gebieterisch um Ruhe: “Mr. Speaker, the President of the United States.” Obama wird auf dem Weg zum Rednerpult etliche Hände schütteln und so manchen Schulterklopfer einstecken müssen. Parteiübergreifend wird Beifall gespendet. Die Ovationen gelten allerdings dem Amt, nicht der Person. Hinter dem Präsidenten sitzen Vize-Präsident Joe Biden als erster Mann des Senats (links) und John Boehner, der republikanische Sprecher des Repräsentantenhauses (rechts). Ihrem Mienenspiel wird abzulesen sein, wie das zwischen Staatsakt und politischer Ostermesse oszillierende Ritual (Beginn am Mittwoch um drei Uhr mitteleuropäischer Zeit) ankommt.

Alle Fernseh-Sender berichten live. Hunderte Beobachter legen bereits während der Rede jedes Wort auf die Goldwaage. Es wird penibel mitgezählt, wie oft Schlüsselworte wie “Freedom”, “Greatest” und “Good” in Bezug auf die Nation zur Verwendung kommen. Prognose: oft. In der Vergangenheit waren “State of the Union”-Reden regelmäßig Vorboten für militärische Auseinandersetzungen. 1790, in der allerersten „Rede zur Lage der Nation“, sagte George Washington den denkwürdigen Satz, wer den Frieden bewahren wolle, müsse auf Krieg gefasst sein. George W. Bush führte vier Monate nach den Anschlägen vom 11. September 2001 den folgenreichen Begriff von der „Achse des Bösen“ in die politische Debatte ein.

Obama wird wohl keine Strategie der Annäherung verfolgen

Barack Obama wird dem Stand der Dinge nach keine allzu bellizistischen Töne anschlagen; auch nicht gegen den Iran. Seine dritte Rede dieser Art wird aber schon heute mit jener verglichen, die Vorgänger Bill Clinton 1996 zu halten hatte. Auch damals stand eine Wiederwahl an. Auch damals waren die Zwischenwahlen nach zwei Jahren an die gegnerischen Republikaner gegangen. Demokrat Clinton versuchte die Opposition zu umgarnen, indem er ihre Themen besetzte. Obama, heißt es, werde diese Strategie der Annäherung so nicht mehr verfolgen. Zu sehr seien die Republikaner im vergangenen Jahr auf Crash-Kurs zu seiner Politik gegangen. Der Amtsinhaber wolle mit Blick auf den Wahltag am 6. November ein klarer Signal geben: Die – oder ich.