Essen. . Was können Eltern tun, wenn das eigene Kind plötzlich den Holocaust leugnet, rassistische Reden schwingt und Rechtsrock hört? Der Verein „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ berät Eltern, deren Kinder in die Neonazi-Szene abgerutscht sind. Die meisten Anfragen kommen aus NRW.

Der Vater des Rechtsterroristen Uwe Mundlos ist schockiert über die Taten, die sein Sohn begangen haben soll. In den neunziger Jahren habe seine Familie noch versucht, Uwe vom Abdriften in die rechte Szene abzuhalten, sagte er dem Nachrichtenmagazin „Spiegel“. „Alles, was man sich einfallen lassen konnte, habe ich gemacht. Ich konnte einfach nichts dagegen tun.“ Hilflosigkeit und vor allem tiefe Scham empfinden auch die Eltern, die sich an die Online-Beratung des Vereins „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ wenden. Ab dem kommenden Jahr können sie sich hier auch im Chat austauschen. Projektleiter Martin Ziegenhagen erklärt im Gespräch mit DerWesten, wie Rechtsextremisten junge Menschen ködern und was Eltern dagegen tun können.

Was muss bereits passiert sein, damit sich Eltern bei Ihnen melden?

Martin Ziegenhagen: Viele Eltern sind extrem verunsichert und manche bereits vollkommen handlungsunfähig, wenn sie sich bei uns melden. Idealerweise sollten sie bei ersten Anzeichen sofort reagieren. Es ist aber leider häufig so, dass die Eltern sehr spät mitbekommen, was da läuft. Und erst aktiv werden, wenn ihr Kind schon tief in die rechte Szene verstrickt ist. Wir haben unsere Beratung deshalb als anonymes Online-Angebot aufgezogen, weil wir glauben, dadurch die Schamschwelle sehr niedrig zu legen. Und die Eltern dazu zu bewegen, sich früher zu melden.

Was sind erste Alarmzeichen, auf die Eltern achten sollten?

Ziegenhagen: Erste Anzeichen können ein anderes Outfit sein, verdächtige Flyer oder CDs in der Schultasche, der Besuch rechter Internetseiten, möglicherweise ein wachsendes Geschichtsinteresse, Rückbezüge auf den Nationalsozialismus, neue Freunde. Die Zeit der Glatzen und Bomberjacken ist jedoch vorbei. Sie sind zwar immer noch Teil der rechtsextremen Kultur, aber die Szene hat sich weit geöffnet. Vom Outfit her könnte man manchen Rechten auch für einen Linken halten. Selbst Palästinenser-Tücher und Che-Guevara-T-Shirts sind längst in der Szene angekommen. Es gibt sogar rechten Hip Hop. Die Rechten sind natürlich daran interessiert, so viele Jugendliche wie möglich abzugreifen. Sie haben unterschiedliche Jugendkulturen übernommen und für sich umgedeutet. Das macht es für die Eltern natürlich schwieriger.

Der Vater von Uwe Mundlos, eines der Mitglieder der Zwickauer Terrorzelle, ist Professor. Aus welchem sozialen Milieu stammen die Eltern, die sich an Sie wenden?

Ziegenhagen: Das geht quer durch alle Bevölkerungsschichten. Das kann Akademiker genauso erwischen, wie Eltern in eher prekären Verhältnissen.

Wie kommt es überhaupt dazu, dass Jugendliche in die rechte Szene abrutschen?

Ziegenhagen: Zunächst haben sie in der Regel einen handfesten Grund, sich vom Elternhaus zu lösen. Sie geraten in die rechte Szene dann mehr oder weniger zufällig hinein, weil die gerade vor Ort den Mainstream darstellt oder entsprechende Angebote macht. Kinder sind in der Pubertät auf der Suche nach Orientierung und sind daher extrem labil und verunsichert. Sie wenden sich vom Elternhaus ab und suchen in einer anderen Gruppe Rückhalt. Und die rechte Szene nutzt diese Phase aus. Sie verschafft den Jugendlichen genau die Anerkennung, die sie möglicherweise zuhause nicht erhalten. Die Rechten gehen offensiv auf Menschenfang.

Wie gelingt es den Neonazis, an junge Menschen heranzukommen?

Ziegenhagen: Das passiert auf sehr geschickte Art und Weise. Neonazis rücken nicht sofort mit ihrer politischen Ideologie heraus, sondern ködern die Jugendlichen über Aktionen. Die Mittel haben sich da gar nicht so verändert. Was früher Klampfe und Lagerfeuer waren, sind heute Konzerte, Demonstrationen oder Sportveranstaltungen. Vor allem im ländlichen Raum sind sie stark vertreten, viel stärker als in den Städten. Auf dem Land sind die Rechten häufig die einzigen Anbieter von Jugendfreizeit-Aktivitäten.

Auf dem Land ist die Gefahr also höher, in die Fänge von Rechten zu gelangen. Wie sieht die regionale Verteilung sonst aus? Sicher ist der rechte Einfluss in ostdeutschen Bundesländern höher als etwa in NRW.

Ziegenhagen: Unsere Zahlen sind nicht repräsentativ. Aber die häufigsten Anfragen in unserer Online-Beratung erhalten wir aus Nordrhein-Westfalen. Dort liegt ja auch ein Schwerpunkt der Szene. Der Rechtsextremismus ist ein gesamtdeutsches Problem. Er sucht sich genau die Regionen aus, die abgehängt sind, wo es kaum Angebote für junge Leute gibt. Insofern ist das Problem auch hausgemacht. Der Rechtsextremismus ist zudem dort stark, wo die Demokratie schwach ist. Das heißt dort, wo andere Parteien nicht aktiv sind, da macht die NPD ein Bürgerbüro oder eine Schuldnerberatung auf. Da veranstaltet die NPD Bürgerfeste oder engagiert sich im Sportverein. Und kommt stets als der nette Nazi von nebenan daher. Und wenn die NPD erst einmal zur Normalität gehört, hat sie schon gewonnen.

Normalerweise müsste man doch damit rechnen, dass es Widerstände gibt, wenn etwa ein Neonazi im Sportverein mit seiner Ideologie herausrückt.

Ziegenhagen:Das könnte man erwarten. Das ist vielerorts aber nicht so. Häufig gibt es die Tendenz wegzuhören, weil man keinen Ärger haben will. Einzuschreiten erfordert viel Mut. Es ist häufig eine Sache von Sekunden sich zu entscheiden: Sag ich etwas oder sag ich nichts. Außerdem kommen die Rechten nicht mit dem Hitlergruß daher. Es geht eher um rassistische Sprüche, bei denen die Grenze nicht ganz klar zu erkennen ist. Man kann es den Leuten letztendlich nicht verübeln, dass sie auf solche Situationen nicht vorbereitet sind.

Sportvereine haben sie bereits genannt. Wo werden Jugendliche sonst noch von Rechten angesprochen?

Ziegenhagen: Man kann keinen gesellschaftlichen Bereich ausschließen. Die können überall sein und fallen dort erst einmal auch gar nicht auf. Gerade im Sport gibt es immer wieder solche Fälle. Da ist etwa ein NPD-Mitglied jahrelang Trainer in einem Ort und hat massiven Einfluss auf die meisten Jugendlichen.

Sind nicht auch die Eltern ein Stück weit mit Schuld an einer solchen Entwicklung?

Ziegenhagen: Häufig gibt es in den betroffenen Familien Probleme, die es begünstigen, dass Jugendliche den Eltern aus dem Blickfeld geraten. Von Schuld sprechen wir aber nicht. Es würde die Eltern nur darin bestätigen, was sie ohnehin empfinden. Diejenigen, die sich bei uns melden, schämen sich sehr. Sie sind regelrecht gelähmt und schockstarr. Diese Leute müssen erst einmal wieder Boden unter den Füßen bekommen. Wenn Eltern sich an uns wenden, geht es zunächst einmal darum, ihnen klar zu machen, dass sie mit ihren Problemen nicht alleine sind. Sie müssen wieder handlungsfähig werden und in einem weiteren Schritt darüber nachdenken, was sie tun können. Die Kommunikation mit ihren Kindern ist in der Regel stark gestört. Wir versuchen, das wieder in Gang zu bringen.

Was können Eltern überhaupt ausrichten, um ihr Kind aus den rechten Kreisen herauszuholen?

Ziegenhagen: Die Eltern müssen zuallererst begreifen, was ihr Kind dort sucht und was sie von ihnen weggetrieben hat. Sie müssen versuchen, mit dem Jugendlichen zunächst einmal wertfrei darüber zu sprechen und weiter im Gespräch zu bleiben. Die Eltern sollten deutlich und klar sagen: Wir dulden das nicht, wir sind demokratisch orientierte Menschen, aber du bist trotzdem unser Kind, unsere Liebe ist dir sicher. Klare Kante, klare Grenze und trotzdem immer gesprächsbereit sein. Dabei müssen Eltern viel Kraft und Durchhaltevermögen aufbringen. Der Ausstieg aus der Szene ist ein langer Prozess. Wenn die Jugendlichen schon tief drinstecken, dauert das mindestens zwei Jahre.