Rom. Wissenschaftler fürchten, dass Italien nach dem Abgang von Silvio Berlusconi vor einem politischen Erdbeben steht. Dass der Ministerpräsident kurz vor der Staatspleite aus dem Amt schied, könne Kräfte freisetzen, die die politische Landschaft des Stiefelstaats grundlegend verändern könnten.
Der Zusammenbruch des korrupten Parteiensystems spülte Silvio Berlusconi vor bald 20 Jahren auf die politische Bühne Italiens. Sein von hämischen „Hans-Wurst“-Rufen begleiteter Abgang könnte jetzt ein ähnliches politisches Erdbeben auslösen. Was nach dem skandalträchtigen 75-jährigen Politiker und Medien-Milliardär kommt, ist völlig ungewiss.
„Sich Berlusconis zu entledigen, bedeutet das Ende einer Ära. Die große Frage aber ist, ob es der Beginn eines neuen Zeitalters oder eines langsamen Verfalls ist“, sagt Vivien Schmidt, Professorin für internationale Politik an der Universität Boston. Sein Charisma, seine kommunikativen Fähigkeiten, die nahezu vollständige Kontrolle über die staatlichen und privaten Medien, sein riesiges Vermögen gepaart mit politischer Hegemonie verliehen Berlusconi einen in alle Bereiche des öffentlichen Lebens reichenden Einfluss. Dem in zahlreiche Korruptions- und Sexskandale verwickelten Cavaliere wird deshalb auch vorgeworfen, nicht nur das Niveau der Politik, sondern auch das der Gesellschaft mit seichten Fernsehshows und leicht bekleidetem Frauen nach unten getrieben zu haben.
Eine vergleichbare Figur, die in die von Berlusconi gerissene Lücke treten könnte, ist nicht in Sicht. Dass er das Ruder kurz vor der Staatspleite aus der Hand gab, löst möglicherweise eine Revolution aus und setzt Kräfte frei, welche die politische Landschaft grundlegend verändern könnten. „Das ändert die Richtung“, konstatiert Professor Erik Jones von der Johns-Hopkins-Universität in Bologna. Die Einsetzung einer Regierung von Technokraten unter dem früheren EU-Kommissar Mario Monti könnte zentrifugale Kräfte sogar noch begünstigen.
Interessenkonflikt zwischen Medienmacht und Politik
Die von der Regierung Monti vorangetriebenen Sparmaßnahmen stellen sowohl Linke als auch Rechte vor eine Zerreißprobe, weil die Kürzungen die jeweilige Klientel belasten. Berlusconis Partei Volk der Freiheit (PDL) ist über der Frage tief zerstritten, ob sie eine aus ihrer Sicht undemokratische Regierung unterstützen soll. Die Krise hat auch auf den bisherigen Koalitionspartner Lega Nord übergegriffen, dessen fremdenfeindlichem Anführer Umberto Bossi das selbe Schicksal wie Berlusconi droht. Die Lega dürfte die Zusammenarbeit mit der PDL aufkündigen und in die Opposition gehen mit ungeahnten Folgen für die Kooperation in Gemeinden und Regionen.
Ähnliche Zerreißproben drohen den Linken, wo das Bündnis der Demokratischen Partei mit den Gewerkschaften auf dem Spiel steht. „Es gibt Spaltungen in der Demokratischen Partei“, konstatiert Jones im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Reuters. „Wir stehen vor einer außergewöhnlichen Periode der Polarisierung und Zersplitterung.“
Der Abgang Berlusconis könnte aber auch das Ende von Korruption und unethischem Verhalten bewirken, das Kritiker in der Verquickungen von medialer und politischer Macht in der Hand des Regierungschefs sehen. „Dieser Interessenkonflikt hat die Politik 20 Jahre lang gelähmt und hatte einen äußerst schädlichen Einfluss auf die Wirtschaft, die Politik, das gesamte öffentliche und kulturelle Leben“, sagt John Foot, Professor für Neue Geschichte am University College London.
Die Verquickung von Sex und Macht
Für den Kommentator und Ex-Diplomaten Sergio Romano hat Berlusconis Machtfülle die italienische Gesellschaft vergiftet. „Ich kann mich an keinen Augenblick der italienischen Geschichte erinnern, in dem Politiker in so viele Skandale verwickelt waren.“ Der Einschätzung stimmt James Waltson, Politikprofessor an der Amerikanischen Universität in Rom, zu: „Es herrscht die weit verbreitete Auffassung, dass alles möglich ist, die große wie die kleine Illegalität. Wenn Du Macht hast, kannst Du in der Annahme der Immunität tun und lassen, was Du willst.“
Offen ist, welchen Einfluss der Rücktritt Berlusconis auf das Programm seines privaten Fernsehimperiums haben wird. „Es wird eine lange Zeit brauchen, die gesellschaftlichen Folgen von Berlusconis Wirken zu verändern“, glaubt Walston. Der Cavaliere habe nämlich schon vor seiner Zeit als Politiker das Frauenbild propagiert, „dass eine, die gut mit dem Hintern wackeln kann, alles erreichen kann“. Auch Foot glaubt, dass die Verquickung von Sex und Macht im Fernsehen andauern wird. In der Politik werde das aber eine weniger große Rolle spielen. Dass Frauen wegen einer Affäre mit Mächtigen Karriere machten, komme in jeder Gesellschaft vor, „in Italien hat das aber groteske Ausmaße erreicht.“ (rtr)