Essen. In Deutschland gibt es an vielen Orten eine muslimische Paralleljustiz, sagt der Ex-ARD-Journalist Joachim Wagner. Friedensrichter regelten Streitigkeiten ohne gesetzliche Grundlage, dafür gegen Barzahlung. Deutsche Gerichte blieben dabei außen vor.
11. November 2009 in Essen-Katernberg. Junis K. schießt Mehmet F. (Namen geändert) in den Fuß, weil dieser schlecht über ihn geredet haben soll. Versöhnungsgespräche der Familien scheitern. 2010 schießt der Bruder des Opfers K. aus Rache ins Bein. Über Monate arbeiten Polizei und Justiz mit muslimischen Streitschlichtern zusammen, um die Straftat zu klären. Am Ende wird Pistolenschütze K. zu neun Monaten auf Bewährung verurteilt. Weil Zeugen vor Gericht nur noch – so die Polizei – „Wischiwaschi“ geredet und die beiden verfeindeten Clans den Fall wohl untereinander geregelt haben.
Von einer „herben Niederlage für die Essener Justiz“ spricht Ex-ARD-Journalist Joachim Wagner in seinem neuen Buch „Richter ohne Gesetz“. Darin schildert er spektakuläre Beispiele dafür, wie muslimische Friedensrichter zunehmend das deutsche Rechtssystem aushebeln – durch außergerichtliche Streitschlichtung. Sie hat in arabischen Kulturkreisen eine 3000 Jahre alte Tradition und basiert auf dem Prinzip: „Strafverzicht gegen finanzielle Entschädigung“.
Hochbrisantes Strickmuster
Nach Wagners Recherchen funktioniert die Schlichtung mitunter nach einem hochbrisanten Strickmuster: Bei einer Straftat schaltet sich ein Schlichter parallel zum Gerichtsverfahren ein und erwirkt, dass Täter und Opfer ihren Streit untereinander regeln. Dann ziehen die Zeugen und Geschädigten ihre ursprünglichen Aussagen zurück oder sie bekommen massive Gedächtnislücken. Die deutsche Justiz, so Wagner, stehe dem oft hilflos gegenüber. Selbst Schwerverbrecher kämen nach seinen Recherchen straflos davon.
Gerade in Essen, Berlin und Bremen ist nach Einschätzung des Autoren eine Gefahr für den Rechtsstaat erwachsen. Denn dort gebe es kurdischlibanesische Clans, für die die Schlichtung eine „Institution“ sei. Bei den Friedensrichtern handelt es sich zumeist um Privatleute ohne juristische Ausbildung. Ihr Erfolg gründe sich auf Ansehen und Macht, meist seien es Familienälteste oder Clanchefs.
Deren Wirken schildert Wagner nicht automatisch negativ: Die Stadt Essen etwa arbeitet mit dem örtlichen Imam und libanesischen Streitschlichtern zusammen – um Straftaten vorzubeugen und eine Eskalation von Konflikten zu verhindern. Wagner erinnert hier an die Massenschlägerei im Jahr 2005 mit 100 Beteiligten aus zwei Familien. Bei einem Treffen zwischen dem Imam als Schlichter, den Clanchefs und Polizei gab es zwar einen „Friedensvertrag“, doch bei den parallel laufenden Strafverfahren stieß die Justiz an Grenzen. Offenbar war keiner der am Streit Beteiligten an einer strafrechtlichen Ermittlung interessiert.
Gläubiger gekidnappt
Mitunter, so Wagner, erfahre die deutsche Justiz von Verbrechen überhaupt nichts, weil die Beteiligten die Sache untereinander regeln. Wagner berichtet von einem Schuldner, der 40.000 Euro nicht zurückzahlen kann. Der Gläubiger habe ihn kidnappen und foltern lassen. Nachbarn alarmierten die Polizei. Aus Angst habe das Opfer erzählt, die Täter seien seine Retter gewesen. Am Ende sei es zur Einigung gekommen: Der Schuldner habe 20.000 Euro zurückgezahlt. Den Rest habe er behalten dürfen, wenn er auf die Strafanzeige verzichtete. Die deutsche Justiz, so Wagner, habe davon nie erfahren.
Der Autor fordert ein härteres Vorgehen der deutschen Behörden gegen diese „Paralleljustiz“. Dazu müsse man den „Missbrauch“ beim Auskunftsverweigerungsrecht beenden. Es gehe darum, dass Zeugen ihre ersten Aussagen nicht mehr ohne Weiteres widerrufen können, so dass sie bei der Hauptverhandlung wertlos sind, sagt Wagner.