Berlin. .
Der Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (62) ist der andere berühmte Tabubrecher der SPD – gerade liest er Thilo Sarrazins neues Buch. Und findet es für die Integrationsdebatte nicht förderlich.
Für Parteichef Sigmar Gabriel ist er ein sozialdemokratischer „Schatz“, viele Genossen würden ihn lieber aus der Partei werfen: Der Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (62) ist der andere berühmte Tabubrecher der SPD – gerade liest er Thilo Sarrazins neues Buch. Buschkowsky über Thilo Sarrazins Buch und die richtigen Schlüsse daraus
DerWesten: Wie weit sind Sie denn?
Buschkowsky: Ich bin auf Seite hundert. Ich glaube auch nicht, dass es viele gibt, die schon mehr davon gelesen haben, obwohl sie genau wissen, dass das Buch rassistisch ist und Sarrazin in die NPD gehört. In dem, was ich bisher gelesen habe, habe ich den Oberaufreger nicht gefunden. Sarrazin stellt unbestreitbare statistische Daten zusammen und leitet aus ihnen seine persönliche Sicht ab. Er ist dabei nicht zimperlich, er verallgemeinert und macht Migranten, speziell Muslime in Bausch und Bogen nieder. Wir reden jetzt nur noch über den Parteiausschluss anstatt darüber, wie wir Defizite bei der Integration beseitigen können. Zum Beispiel, dass in Berlin jeder zweite deutschstämmige Schüler das Abitur macht, aber bei den Schülern mit Migrationshintergrund in Neukölln nur 17 Prozent.
Sarrazin hat also Recht?
Ich finde das Buch für die Integrationsdebatte nicht förderlich. Er schürt die Überfremdungsangst. Ja, es gibt Parallelgesellschaften, Bildungsferne, Integrationsverweigerung und höhere Kriminalität bei jungen Männern. Das ist nicht neu. Schwierig wird es, wenn er bestimmte Eigenschaften genetisch bedingt einem bestimmten Volk zuschreibt. Da ist er nah an der Rassentheorie und an Herrenvölkern. Auch gibt es „die Muslime“ nicht. Die Werteordnungen von Sunniten, Schiiten und Aleviten sind sehr unterschiedlich. Gerade bei den letzteren gehören Geschlechtergleichheit und Ächtung von Gewalt sowie Bildung zu den Lebensprinzipien. Die fühlen sich ziemlich angemacht. Es ist auch ein entscheidender Unterschied, ob man sagt, dass Türken oder Araber an sich dümmer sind als andere oder ob man feststellt, dass in diesen Bevölkerungsgruppen bei uns die Bildungsferne höher ist, weil es sich zu 80 Prozent um Landbevölkerung aus der unteren Schicht ihrer Herkunftsländer handelt.
Sarrazins Rechnung läuft ja so: Je größer die bildungsfernen Milieus werden, desto mehr Kinder werden hier geboren, desto dümmer wird Deutschland.
Richtig ist, dass die deutsche Unterschicht und die Zuwanderer höhere Geburtenraten haben als das Bürgertum. Statistisch hätte Sarrazin Recht, wenn die Entwicklung so bliebe. Er sagt, mit Schule kann man weder Menschen noch soziale Schichten verändern. Doch das ist falsch. Sonst würden alle Arbeiterkinder immer noch auf dem gleichen Stand sein wie ihre Eltern seit Beginn der Industrialisierung. Bildungsaufsteiger und eine wachsende Mittelschicht hätte es dann in den letzten Jahrzehnten nicht gegeben.
Sarrazin und Buschkowsky – die beiden Tabubrecher, Klartextredner, SPD-Polemiker: Sind Sie Brüder im Geiste?
Es gibt einen wesentlichen Unterschied. Sarrazin sieht sich als Philosoph. Diesen Anspruch habe ich nicht. Ich befasse mich mit dem Lebensalltag der Menschen in Neukölln.
Soll Sarrazin aus der SPD ausgeschlossen werden?
Volksparteien wollen und sollen ein möglichst breites Spektrum an politischen Auffassungen abbilden. Wenn sie sich immer rundlutschen, werden sie konturenlos. Deswegen halte ich generell nicht viel von Parteiausschlüssen. Auch muss man mit lästigen oder ärgerlichen Positionen streiten. Weichen die etablierten Parteien ungeliebten Themen aus, so dürfen sie das Entstehen neuer gefährlicher Strömungen nicht beklagen. Herr Haider und Herr Wilders wurden nicht von allein hoffähig.
Was ist Ihre größte Sorge?
Dass die gesellschaftliche Ignoranz, das Wegducken, Abtauchen und Schönreden sich doch durchsetzen. Dann würde Sarrazin mit seiner Katastrophentheorie Recht behalten. Ich halte Politik und unsere Gesellschaft zwar für zu langsam, aber nicht für so dumm. Wir haben keinen Erkenntnismangel, sondern ein Handlungsdefizit.
Was muss sich ändern?
Ich bin davon überzeugt, dass in zehn Jahren niemand mehr über eine Kindergartenpflicht, nennen Sie es auch verbindliche Vorschulerziehung, streitet. Wir brauchen, wie in ganz Europa üblich, Ganztagsschulen. Es hat keinen Sinn, Kinder um halb zwei nach Hause zu schicken, damit sie eine halbe Stunde später vor dem Fernseher sitzen. Der auch nicht deutsch mit ihnen spricht. Gemischt ethnische Sozialarbeiterteams in den Schulen, die die Eltern einbeziehen, kostenloses Mittagessen, kleinere Klassen und Konsequenz bei den gesellschaftlichen Regeln. Das sind die richtigen Rezepte. Die Schulpflicht ist keine unverbindliche Empfehlung: Kommt das Kind nicht in die Schule, kommt das Kindergeld nicht auf das Konto. Integration muss man unterstützen und einfordern. In Ruhe lassen ist keine Integrationspolitik.
Kommt die Chipkarte?
Ich hoffe es. Im Moment hat Frau von der Leyen wohl nur einen einzigen öffentlichen Befürworter, und der sitzt vor Ihnen. Der Umstieg von der Geldscheinförderung für Eltern auf gesellschaftliche Sachleistungen, die direkt bei den Kindern ankommen, ist der richtige Weg. Die Chipkarte ist nur ein Einstieg in eine neue Philosophie der Familienförderung, die die Kinder in den Mittelpunkt stellt.
Kurz nach dem Tod der Neuköllner Jugendrichterin Kirsten Heisig ist deren Buch „Ende der Geduld“ erschienen. Pflichtlektüre?
Ja. Und zwar für jeden, der sich mit den realen sozialen Welten in unserem Land beschäftigen will - jenseits der gutbürgerlichen Knickkissen auf dem Sofa. Kirsten Heisig skandalisiert nicht, sondern sie gibt nur wieder. Den Inhalt von Fällen auf ihrem Schreibtisch oder ihre Erlebnisse im Gerichtssaal. Sie nimmt sich noch zurück, gekaufte Alibis, die Geschäfte der Clans untereinander, die Tricks der teuersten Anwälte der Stadt im Dienste der Hartz IV-Familien, das alles bleibt außen vor. Dennoch, für Menschen, die das Leben in sozialen Brennpunkten nicht kennen, ist das Buch schwere Kost.
Haben Sie manchmal Angst in Neukölln?
Nein. Auch meine Sorgenkinder haben auf der Straße freundliche Grüße und eine Einladung für mich. Nur ihr Angebot „Bürgermeister, wenn du Feinde hast, sag’ sofort bescheid, wir kämpfen für dich“ schlage ich lieber doch aus.