Witten. .

Eine Diskussion über Integration war schon lange geplant, bevor Thilo Sarrazin die Wittener SPD mit seinen umstrittenen Thesen überholte.

Der Partei gelang es dennoch, wie es sich Stadtverbandsvorsitzender Thomas Stotko zum Beginn des dritten „Impulsgesprächs“ am Montagabend (4.10.) in der Saalbau-Gastronomie „Leckerbissen“ gewünscht hatte, zu einer gewissen „Versachlichung“ beizutragen.

Das Noch-SPD-Mitglied Sarrazin hatte unter anderem die Bildungsferne von Muslimen kritisiert. Sie würden sich schlechter als andere Einwanderer integrieren. Er attestiert ihnen falsche Rollenbilder und eine erhöhte Gewaltbereitschaft. Sie heirateten fast ausschließlich untereinander und das Kopftuch verbreite sich immer mehr. Deutschland würde gleichzeitig immer kleiner und dümmer. Keine andere Religion trete in Europa so fordernd wie der Islam auf, keine andere Immigration sei so stark wie die muslimische mit Inanspruchnahme des Sozialstaats und Kriminalität verbunden.

Sarrazin bestimmte mit seinen Thesen, die in der Behauptung von unterschiedlichen Genen bestimmter Bevölkerungsgruppen gipfelten, jedoch nicht den ganzen Abend. Die Redner auf dem Podium sowie einige der rund 80 Zuhörer warfen dem früheren Berliner Finanzsenator vor, alles in einen Topf zu werfen und nicht wissenschaftlich vorgegangen zu sein.

„Haben Sie Ihre Gene schon geändert“, fragte Thomas Stotko als Moderator provozierend den türkischstämmigen Buchautor und Hochschullehrer Prof. Dr. Ahmet Toprak. Wenn seine Drittsemester den 480-Wälzer von Sarrazin lesen und nicht in der Luft zerfetzen, wäre er sauer, sagte Toprak. Das nämlich würde bedeuten, dass sie bei der „Einführung in wissenschaftliches Arbeiten“ nicht aufgepasst hätten.

Sarrazin rechne etwas hoch, was man nicht hochrechnen könne. Er verallgemeinere, was wissenschaftlich nicht seriös sei. Toprak: „Ich kann ja auch nicht von den Touristen auf Mallorca auf alle Deutsche schließen.“ Sarrazin übertrage eine „Problemsubgruppe“, die es zweifelsohne gebe, auf alle Muslime. Seine Problemanalyse sei verletzend und diffamierend, vergifte das gesellschaftliche Zusammenleben und trage nicht dazu bei, in der Integrationsforschung weiterzukommen. Wobei er auch „anständige“ Vorschläge mache, so Toprak, etwa mehr Ganztagsschulen und den Ausbau von Kitas fordere.

„Sind wir ab 2100 alle verdummt, gibt es dann nur noch Menschen mit Migrationshintergrund und lauter Integrationsunwillige?“ fragte Landtagsabgeordneter Thomas Stotko zugespitzt. Die These Sarrazins, das Land würde immer dümmer, entbehre jeder Grundlage, meinte Tayfun Keltek, Vorsitzender der Integrationsräte in NRW. Sie spüre in seinen Thesen überhaupt keine Wertschätzung für die Menschen, sagte Wittens Integrationsbeauftragte Claudia Fohrmann. „Man kann Probleme ja benennen, sollte aber auch Lösungen suchen, um zu helfen.

Der wichtigste Schlüssel zu einer gelungenen Integration, da waren sich alle Redner auf dem Podium einig, sind Sprache und Bildung. Parallelgesellschaften entstünden erst durch zu frühe Selektion im Bildungswesen, meinte Tayfun Keltek. Ein Schulleiter habe den Sohn eiens Ford-Managers wegen seiner etwas dunkleren Hautfarbe zur Hauptschule schicken wollen. Keltek wurde an dieser Stelle durch einen lautstarken Zwischenrufer unterbrochen: „Ich finde das unverschämt, das zu sagen.“ Dies blieb der einzige Moment, wo die Veranstaltung zu eskalieren drohte.

Der Vorsitzende der NRW-Integrationsräte sieht einen Grund für den Misserfolg von Migrantenkinder darin, dass Schulen nicht deren Kompetenzen berücksichtigten, etwa ihre Mehrsprachigkeit. An Prof. Toprak, der für eine Studie über Integrationswilligkeit 124 Interviews geführt hat, ging die Frage: „Sind die jetzt integrationswillig oder unwillig?“ Toprak räumte Integrationsunwilligkeit ein. Doch die Gründe dafür seien nicht etwa in der Religion der Muslime zu suchen, sondern in der prekären sozialen Lage. „Dann ziehen sich die Menschen zurück, was auch Deutsche betrifft.“

Prof. Toprak warnte vor einer Verschärfung der Hartz-IV-Problematik und nannte das jetzige Schulsystem diskriminierend. Es mache Bildung von der Herkunft abhängig. Migranten seien davon stärker betroffen, weil sie oft zur Unterschicht gehörten. Toprak sprach sich ebenfalls gegen eine zu frühe Trennung der Kinder in der Schule aus. „Warum muss man nach zehn Jahren wissen, ob man Akademiker oder Dachdecker wird? Ich wusste es nicht mal nach dem Abitur.“

Tayfun Keltek vom Landesintegrationsrat forderte: „Wir müssen die Kinder so annehmen, wie sie sind.“ Auch, damit die islamischen Organisationen keinen Rückenwind bekämen. Erst wenn sich keine Erfolge in Schule, Gesellschaft oder Beruf einstellten und die soziale Lage schwierig sei, komme die Religion ins Spiel, sagte Prof. Toprak. Darüber werde dann versucht, Anerkennung zu finden. Um so wichtiger sei die Identifikation über Bildung und Beruf.

Wie erfolgreich die Integration türkischer Jugendlicher und Erwachsener in Sportvereinen sein kann, schilderte KSV-Vorsitzender Detlef Englich. Der KSV habe seit 1960 türkische Sportler. „Die haben was von uns übernommen und wir von ihnen.“ Sport sei ein Top-Projekt für gegenseitiges Verständnis. Englich: „Da haben die Kinder Erfolgserlebnisse.“ Das bestätigte Prof. Toprak: Sport sei der größte Integrationsmotor.

Aber wer entscheidet eigentlich, „ob ich integriert bin oder nicht“, wollte ein Zuhörer wissen. „Gilt das nur, wenn man Frau ihr Kopftuch ablegt und abends Party macht?“ Das könne nur seine Frau entscheiden, ob sie sich integriert fühlt, sagte Prof. Toprak. Integration sei ein offener Prozess, der nie ende. „Beide Seiten müssen aufeinander zugehen, dann kann es funktionieren.“

Der Innenminister spreche von zehn bis 15 Prozent Integrationsunwilligen, „wir kennen aber keine Zahlen“, sagte der türkischstämmige Hochschullehrer. Die Menschen seien auch nicht unwillig, sondern manchmal unfähig. Toprak: „Mal sind sie selbst Schuld, manchmal fehlt das Angebot.“ Er hob hervor, dass die Zahl krimineller ausländischer und deutscher Jugendlicher ständig weiter abnehme. „Wir sind immer noch auf einem niedrigen Niveau.“

Die städtische Integrationsbeauftragte Claudia Formann sieht die „meisten Migranten in Witten integriert. Sie fallen nur nicht auf“. Projekte seien für jene wichtig, die Hilfe brauchen. Man solle auf seinen Nachbarn zuzugehen. „Die Menschen fühlen sich wohler, wenn sie merken, dass sie willkommen sind“.

Der Kongolese Mputu Tshiondo sprach von einer etwas altmodischen Diskussion. Ihm komme es vor, als habe Deutschland eine alte Landkarte auf den Navi heruntergeladen. Unsere Zukunft liege aber nur im Zusammenleben, darin, „ein Dorf zu haben“. Und er fragte: „Wie kann ich mich in eine Gesellschaft integrieren, wenn die Deutschen das nicht wollen?

Die Philippinin Perla Gutzeit, seit 1980 in Witten, betonte: Sie habe Anerkennung bekommen, weil sie integrationswillig sei. Niemand habe ihr dabei geholfen. „Ich habe gesucht, wo die Bücherei ist.“