Athen. . Griechenland kämpft ums Überleben. Premier Giorgos Papandreou will das Land mit drakonischen Sparmaßnahmen und radikalen Reformen aus dem Schuldenstrudel befreien. Aber mächtige Zünfte und dogmatische Gewerkschaften verteidigen ihre Privilegien.
Nikos Fotopoulos ist auf einen Schornstein geklettert, 174 Meter hoch. Er ist Chef der Gewerkschaftsföderation Genop beim staatlichen Stromversorger DEI. Der Kamin steht beim Erdgaskraftwerk von Keratsini westlich Athens. Gemeinsam mit anderen Gewerkschaftern spannte Fotopoulos ein großes Spruchband an dem Schlot auf: „Billiger Strom – die DEI in Volkseigentum“.
Noch gehört das Unternehmen zu 51 Prozent dem Staat. Aber die Regierung von Ministerpräsident Giorgos Papandreou will sich von 17 Prozent der Aktien trennen. Der geplante Verkauf ist Teil eines Privatisierungsprogramms, mit dem die Regierung bis 2015 rund 50 Milliarden Euro zu kassieren hofft. So sollen Staatsschulden abgetragen werden. Aber das will Nikos Fotopoulos nicht zulassen.
Doch jetzt ist er in Erklärungsnot. Kämpfen er und seine Genossen wirklich für „billigen Strom“? Oder geht es ihnen um eigene Privilegien?
Diesen Verdacht haben viele Griechen, wenn sie jetzt in den Zeitungen über das „Dolce Vita“ der Belegschaftsvertreter lesen: 31,3 Millionen Euro hat die Gewerkschaft zwischen 1999 und 2008 als Zuwendungen von dem Unternehmen erhalten. Auslandsreisen der Gewerkschaftsführer, Suiten in Luxushotels, Schlemmereien in Gourmet-Restaurants, sogar Tankrechnungen für die Autos der Kinder wurden mit Firmengeldern bezahlt. Jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft.
Angst vor Privatisierung
Nikos Fotopoulos, der die Gewerkschaft seit 2007 führt, verteidigt sich: schon seit 27 Jahren gebe es diese Zahlungen, sie seien in den Tarifverträgen vorgesehen – als mache das die Sache besser. Wird eine Gewerkschaft, die Geld vom Unternehmen annimmt, dadurch nicht abhängig? Nein, findet Fotopoulos: „Schließlich streiken wir ja immer wieder.“
Jetzt beginnt man zu verstehen, warum die Gewerkschafter eine Privatisierung des Unternehmens fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Ein Job bei der DEI oder einem der anderen Staatsbetriebe: Generationen von Griechen haben davon geträumt. Und die Politiker haben diese Träume erfüllt. Wer einem Schulabgänger einen krisenfesten Job bei den Gas- oder Wasserwerken besorgte, konnte mit den Wählerstimmen der Großfamilie rechnen.
Dass es im Staatsdienst weder auf Qualifikation noch auf Fleiß ankommt, sondern nur auf Beziehungen, wussten alle Griechen. Auch dass Beamte eine Prämie erhalten, wenn sie pünktlich zum Dienst erscheinen, hatte sich bereits herumgesprochen.
18 Monatslöhne
Aber anlässlich der Krise erfahren jetzt auch Außenstehende, wie es wirklich zugeht bei den Staatsbetrieben. Beim staatlich kontrollierten Mineralölkonzern Hellenic Petroleum zum Beispiel, wo man 18 Monatslöhne im Jahr kassiert, ein Nachtwächter 72 000 Euro im Jahr verdient und jeder Angestellte auf Firmenkosten fünf Tage im Jahr mit seiner Familie in einem Luxushotel verbringen darf; oder bei der Stadtbahngesellschaft ISAP, wo man als Triebwagenführer die Hälfte der Achtstundenschicht mit Pausen verbringt; oder bei den Staatsbahnen OSE, wo die freien Tage der Lokführer nicht 24, sondern 28 Stunden haben.
Jeder vierte Erwerbstätige in Griechenland wird vom Staat bezahlt – also vom Steuerzahler. Weil die öffentlich Bediensteten praktisch unkündbar sind, nach jedem Regierungswechsel aber neue Günstlinge mit Jobs versorgt werden müssen, wuchs das Heer der Staatsdiener immer weiter. So haben Politiker, Parteien und Gewerkschaften den Staat jahrzehntelang ausgeplündert. Jetzt sitzt das Land in der Schuldenfalle. „Entweder wir ändern uns, oder wir gehen unter“, warnt Premier Papandreou seine Landsleute.
Veränderungen sind nicht gewollt
Er hat Korruption und Vetternwirtschaft den Krieg erklärt. Zumindest sagt er das. Papandreou will das Land von Grund auf modernisieren, die öffentliche Verwaltung verschlanken, die Wirtschaft für mehr Wettbewerb öffnen. Aber er stößt auf starke Widerstände. Zünfte wie Apotheker und Spediteure, Notare und Ingenieure sträuben sich gegen eine Öffnung ihrer abgeschotteten Berufsstände.
Die griechischen Gewerkschaften, in der Privatwirtschaft nahezu einflusslos, im öffentlichen Dienst dafür umso mächtiger, kämpfen für die Privilegien ihrer Mitglieder. Allein bei der DEI gibt es 24 Einzelgewerkschaften. Es geht um Einzelinteressen, nicht um Solidarität und Gemeinwohl.
Konsens gibt es nur in einem Punkt: jede Veränderung muss verhindert werden. So sind die Gewerkschaften der konservativste Teil der griechischen Gesellschaft. Diese Woche haben ihre Dachverbände wieder zum Generalstreik geblasen, dem zehnten seit Beginn der Sparpolitik im März 2010. Mit Parolen wie „Die Reichen sollen für die Krise zahlen“ sind Demonstranten durch die Straßen gezogen.