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Es sind gespenstische Szenen: Männer in weißen Schutzanzügen halten Passanten in den Straßen an und messen vor provisorischen Zeltstationen mit Geigerzählern die Strahlenbelastung. Eltern halten ihre Kinder hoch, Alte lassen es mit stoischer Miene geschehen. Wenn die Japaner Angst haben vor radioaktiver Strahlung, so lassen sie es sich nicht anmerken. Obwohl Japan mehr als jedes andere Land die tödliche Kraft atomarer Spaltung erleben musste, führte dies offensichtlich nicht zu erkennbarer Sorge.

Es ist ein unsichtbarer Feind: Radioaktive Strahlung lässt sich nicht riechen, nicht sehen, nur messen. Die japanischen Behörden haben bislang 210 000 Menschen aus Städten und Siedlungen rund um die durch das Erdbeben beschädigten Atomkraftwerke evakuiert, meldet die deutsche Gesellschaft für Reaktorsicherheit. Zum Schutz der Bevölkerung seien 230 000 Dosen Jodpräparate gekauft worden.

Die regionalen Behörden stellen Listen mit Schutzräumen für die Flüchtenden zusammen, berichten japanische Nachrichtenagenturen. Ministerpräsident Naoto Kan hatte am frühen Morgen dazu aufgerufen, einen Umkreis von 20 Kilometern um das havarierte Atomkraftwerk Fukushima zu räumen. In einer Entfernung bis 30 Kilometern sollten die Bewohner ihre Häuser nicht verlassen. Der Aufruf betrifft etwa 140 000 Menschen. Während viele nur so schnell wie möglich weg wollen aus dem Katastrophengebiet, in Richtung Süden, wünschen sich manche Evakuierte, die in Notunterkünften und Turnhallen ohne sichtbare Perspektive festsitzen, am liebsten so schnell wie möglich in ihre Städte und Häuser zurück.

Erhöhte Strahlungswerte

Doch auch der Fluchtweg in Richtung Süden bietet keine absolute Sicherheit. Nach Angaben des Deutschen Wetterdienstes blies gestern ein schwacher Wind die radioaktiven Partikel von den Kraftwerken im Nordosten an der Küste entlang in Richtung Süden auf die 250 Kilometer entfernte Hauptstadt zu. In der Provinz Chiba in der Nähe von Tokio wurde eine zehnmal höhere Strahlenbelastung als üblich gemessen. Auch in der Hauptstadt selbst und sogar südlich davon stiegen die Werte. In Tokio leben acht bis neun Millionen Menschen, im Großraum der Metropole etwa 35 Millionen. Die schwache Windströmung hielt die radioaktiven Partikel lange über der Region. Von Schlangen vor Geschäften und Tankstellen sowie von Panikkäufen war die Rede.

„Das eigentliche Desaster beginnt, wenn die radioaktive Wolke in den Großraum Tokio zieht“, sagt Prof. Hans-Jürgen Lange, Sicherheitsforscher an der Universität Witten/Herdecke. „So viele Menschen in Sicherheit zu bringen, ist absolut unmöglich.“ Was bleibe, sei der Aufruf an die Bevölkerung, die Wohnungen nicht zu verlassen, Ritzen und Spalten zu verkleben, Lebensmittel und Jodtabletten zu bunkern.

„Das gäbe ein absolutes Chaos“

„Weltweit hat es eine Evakuierung von Millionen Menschen noch nie gegeben“, so Lange. „Diese Größenordnung ist nicht zu bewältigen, auch nicht mit Hilfe des Militärs.“ Das schlimmste Szenario trete ein, wenn die Menschen in Panik auf eigene Faust das Gebiet verlassen wollten. „Das gäbe ein absolutes Chaos, alle Wege wären verstopft.“ Die Versorgung der Menschen würde zusammenbrechen. „Wenn sich eine Großstadt auf den Weg macht, kann man nichts mehr steuern“, sagt auch Prof. Armin Seyfried, Experte für Brandschutz und Evakuierung an der Universität Wuppertal.

Ähnlich düster sieht Gerold Reichenbach, Vorsitzender des Deutschen Komitees Katastrophenvorsorge, die Lage. Zwar sei Japan beim Katastrophenschutz weltweit führend, aber: „Evakuieren? Tokio? Das ist gar nicht machbar. Zumal die Einsatzkräfte durch das Beben und den Tsunami bereits erheblich strapaziert sind.“

Hoffnung auf besseres Wetter

Man müsste die Menschen ja irgendwo unterbringen, sie versorgen mit Lebensmitteln, Wasser, Medizin. Doch wo in aller Welt sollen 35 Millionen Menschen Zuflucht finden? Eine Evakuierung Tokios brächte aber nicht nur humanitäre, sondern auch wirtschaftliche Probleme mit sich. Reichenbach: „Hier sind Schlüsselindustrien angesiedelt, Banken, die Börse. Das hätte Folgen für die gesamte Wirtschaft Japans.“

Hoffnung machte gestern die Wettervorhersage für den Abend: Der Wind soll auf Westen drehen, die Brise könnte alles, was Fukushima ausspuckt, hinaus aufs Meer tragen. Das Wohl von Millionen Menschen hängt jetzt vom Wetter ab.

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