Benghasi. . Die Aufständischen in Libyen gewinnen immer mehr Einblicke in das brutale Terror-Reich von Diktator Gaddafi. In Benghasi legen sie unterirdische Folterzellen frei und erleben entsetzliche Szenen. Wer hier verschwand, tauchte meist nie wieder auf.

Aufgebracht gestikulieren die Menschen, fuchteln mit ihren Schaufeln. Inmitten der Menge heult er­neut der Dieselmotor auf. Wie ein Rieseninsekt wankt der gelbe hydraulische Bagger nach vorne, die beiden Kopflampen werfen ein zitterndes Licht in die Nacht. Die Schaufel mit ihren Metallzähnen bohrt sich in den lehmigen Boden. Hier genau, an diesen Ort, sollen gefesselte Menschen hingebracht worden sein, sagen die Leute. Die Erde riecht frisch, plötzlich kracht und splittert es – die Kante ei­ner Betondecke.

Hastig kratzen Helfer etwas von der Fläche frei. In den beiden Tagen zuvor hatten sie be­reits in der Nähe unterirdische Verlies­e mit Eingesperrten ge­funden, in einem zwei, in ei­nem anderen sechs und in dem größten 40 Gefangene, von de­nen drei gestorben waren. Ei­nige der Geretteten sollen über fünf Jahre lang lebendig begraben gewesen sein, be­richten die Menschen bebend vor Empörung.

Muammar al Gaddafi

Auf den Straßen von Bengasi...
Auf den Straßen von Bengasi...
...feiern die Menschen den Einzug...
...feiern die Menschen den Einzug...
... der libyschen Rebellen nach Tripolis. Viele der feiernden Menschen...
... der libyschen Rebellen nach Tripolis. Viele der feiernden Menschen...
... dürften den gleichen Wunsch haben: Diese Männer bringen ihn mit einem selbst gemalten Plakat deutlich zur Geltung. 42 Jahre...
... dürften den gleichen Wunsch haben: Diese Männer bringen ihn mit einem selbst gemalten Plakat deutlich zur Geltung. 42 Jahre...
... Regierungszeit machten  Muammar al Gaddafi zu Afrikas dienstältestem Herrscher, er selbst nannte sich deshalb den
... Regierungszeit machten Muammar al Gaddafi zu Afrikas dienstältestem Herrscher, er selbst nannte sich deshalb den "König der afrikanischen Könige". Oberst Gaddafi, nach eigenen Worten 1942 in einem Beduinenstamm ... © AP/Sergei Grits
... in der Wüste nahe der Stadt Surt geboren, putschte sich im September 1969 unblutig an die Macht und rief wenige Jahre später den
... in der Wüste nahe der Stadt Surt geboren, putschte sich im September 1969 unblutig an die Macht und rief wenige Jahre später den "Staat der Massen" aus. Der regiert sich ... © AP/Francois Mori
... zumindest in der Theorie selbst und braucht folglich keinen Staatschef, weshalb Gaddafi sich nie so nennen ließ.
... zumindest in der Theorie selbst und braucht folglich keinen Staatschef, weshalb Gaddafi sich nie so nennen ließ. © REUTERS
Zu den harmlosen Sonderlichkeiten des Revolutionsführers gehört das berühmte Beduinenzelt, das er selbst zu Staatsbesuchen ins Ausland mitnimmt, weil er nicht in einem Haus schlafen mag. Eine weitere Schrulle ...
Zu den harmlosen Sonderlichkeiten des Revolutionsführers gehört das berühmte Beduinenzelt, das er selbst zu Staatsbesuchen ins Ausland mitnimmt, weil er nicht in einem Haus schlafen mag. Eine weitere Schrulle ... © REUTERS
... ist die frische Kamelmilch, auf die er morgens nicht verzichten mag, weshalb immer auch ein paar Kamelstuten mit ins Flugzeug müssen, wenn er auf Reisen geht.
... ist die frische Kamelmilch, auf die er morgens nicht verzichten mag, weshalb immer auch ein paar Kamelstuten mit ins Flugzeug müssen, wenn er auf Reisen geht. © REUTERS
Seine Herrschaft konnte Gaddafi aber nur mit eiserner Hand festigen. Politische Gegner wurden gnadenlos unterdrückt. Zugleich achtete er bei der Verteilung ...
Seine Herrschaft konnte Gaddafi aber nur mit eiserner Hand festigen. Politische Gegner wurden gnadenlos unterdrückt. Zugleich achtete er bei der Verteilung ... © REUTERS
... von Macht und Posten darauf, dass die komplizierte Stammesstruktur seines Landes nicht aus dem Gleichgewicht geriet. Ablehnung und Protest war Gaddafi daher während seiner Herrschaft bisher nur außerhalb seiner Heimat gewohnt.
... von Macht und Posten darauf, dass die komplizierte Stammesstruktur seines Landes nicht aus dem Gleichgewicht geriet. Ablehnung und Protest war Gaddafi daher während seiner Herrschaft bisher nur außerhalb seiner Heimat gewohnt. © REUTERS
Zum internationalen Paria wurde Gaddafi nach einer Serie von Anschlägen, die seinem Regime zugeschrieben wurden.
Zum internationalen Paria wurde Gaddafi nach einer Serie von Anschlägen, die seinem Regime zugeschrieben wurden. © REUTERS
Anfang der 90er Jahre verhängten die Vereinten Nationen ein Handelsembargo. Jahrelang hielt Gaddafi dem Druck stand, doch im Frühjahr 2003 entschädigte er dann die Opfer der beiden Flugzeuganschläge, ...
Anfang der 90er Jahre verhängten die Vereinten Nationen ein Handelsembargo. Jahrelang hielt Gaddafi dem Druck stand, doch im Frühjahr 2003 entschädigte er dann die Opfer der beiden Flugzeuganschläge, ... © REUTERS
... wenig später schwor er öffentlich seinem Rüstungsprogramm ab. Im darauffolgenden Jahr zahlte die Gaddafi-Stiftung auch Entschädigungen an die Opfer des La-Belle-Anschlags.
... wenig später schwor er öffentlich seinem Rüstungsprogramm ab. Im darauffolgenden Jahr zahlte die Gaddafi-Stiftung auch Entschädigungen an die Opfer des La-Belle-Anschlags. © AFP
Damit vollzog Gaddafi eine radikale Kehrtwende und streckte die Hand nach dem Westen aus. Libyen wurde wieder hoffähig, die UNO hob das Embargo auf. Internationale Konzerne standen ...
Damit vollzog Gaddafi eine radikale Kehrtwende und streckte die Hand nach dem Westen aus. Libyen wurde wieder hoffähig, die UNO hob das Embargo auf. Internationale Konzerne standen ... © REUTERS
... fortan in Tripolis Schlange, um Geschäfte mit dem viertgrößten afrikanischen Ölproduzenten einzufädeln. Die Europäer machten ihn zum Partner, um Flüchtlingsströme aus Afrika einzudämmen.
... fortan in Tripolis Schlange, um Geschäfte mit dem viertgrößten afrikanischen Ölproduzenten einzufädeln. Die Europäer machten ihn zum Partner, um Flüchtlingsströme aus Afrika einzudämmen. © REUTERS
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Ruhe, Ruhe, heißt es plötzlich. Gebannt verstummt die Menge für einen Moment – Szenen wie aus der Apokalypse. Mit Spitzhacke und Vorschlaghammer hacken die Retter ein erstes Loch in die unterirdische Mauer aus grauen Leichtziegeln, rufen in die Öffnung und leuchten mit Ta­schenlampen hinein – nichts. Das kleine Verlies ist leer. Es hat keine Tür, nur Wände ringsherum und oben unter der Decke ein weißes Luftrohr. Schnell geschlagene Gucklöcher führen zu weiteren Erdzellen, ebenfalls ohne Tür und ebenfalls leer. An ei­ner Ecke des unterirdischen Ge­fängnisses finden die Helfer schließlich die Öffnung – eine kleine Betonklappe. Hier sollten die Menschen nach unten gestoßen und offenbar anschließend in ihre neu ge­bauten Särge mit Luftrohr eingemauert werden.

Katiba nennen die Bewohner Benghasis das weitläufige Militär-, Geheimdienst- und Gefängnisareal inmitten der Stadt. Katiba, das war der In­begriff von Terror, Angst und Schrecken. Hier standen die Kasernen von Gaddafis Elitetruppen, die in ihren unterirdischen Bunkern Berge mit leeren Munitionskisten zurückgelassen haben.

„Befreit Libyen von diesem Nero“

Hier befand sich der Palast des ruchlosen Diktators, um­geben von einer extra dicken Spezialmauer. Das überraschend kleine Gebäude in Form einer Zeltarchitektur ist längst eine geplünderte, verkohlte Ruine. Auf die verrußte Wand hat jemand mit Kreide „Befreit Libyen von diesem Nero“ gekritzelt. Auf Al Dscha­sira sind Bücher des Diktators über schwarze Ma­gie und Horoskope zu sehen, die Aufständische hatten mitgehen lassen. Höchstens einmal im Jahr, erzählen die Menschen, ließ sich der Gewaltherrscher gewöhnlich für kurze Zeit in dem widerspenstigen Benghasi blicken.

Wer von den Bewohnern hinter den weißen, ho­hen Be­tonmauern verschwand, der wurde meist nie wieder gesehen. Keiner konnte es wagen, überhaupt in die Nähe zu kommen.

Fünf Tage lang rannten die Aufständischen praktisch oh­ne Waffen gegen die Elitesoldaten und afrikanischen Söldner im Inneren an, die mit Flugabwehrgeschossen und Panzerfäusten auf die jungen Leute feuerten. Über 350 Menschen verloren ihr Leben, mehr als tausend wurden verletzt. Schließlich ge­lang es den todesmutigen An­greifern mit selbstgebastelten Sprengstoffdosen, an denen sie mit Knetgummi die Zündkabel befestigten, die schweren Metalltore aufzusprengen.

Ölingenieur Ibrahim Ba­kush ist seither rund um die Uhr hier. „Wir wissen noch nicht viel“, sagt der 51-Jährige. Selbst unter den Fundamenten der Moschee auf dem Gelände lässt er inzwischen graben. Eine zwanzig Zentimeter breite Stahltür zu einem Treppenabgang haben seine Leute aufbrechen können. Dieser führt hinunter zu einer unterirdischen Folterhalle mit wenigen Luftschächten nahe der Decke. „Wir vermuten ein ganzes System von unterirdischen Zellen“, erläutert Iyad Ali, einer der Helfer.

Stimmen aus der Tiefe

Man habe Stimmen aus der Tiefe gehört, wisse aber nicht, wie man an die Menschen he­rankommen könne. „Ich habe am ganzen Leib gezittert“, sagt der gelernte Maschinenbauer. Er vermutet, dass es sich um Soldaten handelt, die den Schießbefehl gegen die De­monstranten verweigerten. Ih­re Offiziere haben die Eroberer bereits gefunden – gefes­selt und verkohlt in einem der Ka­sernengebäude.

Derweil versucht der neue Rat der Aufständischen in dem Justizpalast an der Corniche, das Leben in Benghasi am Laufen zu halten. Doch noch haben die Aufständischen den Sieg nicht errungen. „Die Gaddafi-Leute sitzen in ihren Wohnungen und warten ab“, warnen die Mitglieder des Revolutionskomitees.

Zwei der fünf Facebook-Initiatoren der Stadt sind seit Tagen spurlos verschwunden. „Es ist nach wie vor sehr ge­fährlich. Und viele Leute ha­ben auch weiterhin Angst“, sagen sie.