Bengasi. . Bewaffnete Truppen des libyschen Staatschefs Gaddafi sind nach Augenzeugenberichten mit äußerster Brutalität gegen Demonstranten vorgegangen. Unterdessen wächst der internationale Druck. Die Schweiz friert Gaddafis Konten im Land ein.
Bewaffnete Truppen des libyschen Staatschefs Muammar Gaddafi sind nach Augenzeugenberichten mit äußerster Brutalität gegen Demonstranten in zwei Städten vorgegangen und haben ein Massaker an den Aufständischen verübt. Dabei machten sie am Donnerstag in der strategisch wichtigen Stadt Sawija auch nicht vor einer Moschee halt. Nach Angaben eines Arzte wurden mindestens zehn Menschen getötet und rund 150 weitere verletzt. Gaddafi selbst erklärte derweil, hinter dem Aufstand gegen ihn stecke Al-Kaida-Führer Osama bin Laden.
Muammar al Gaddafi
Augenzeugen zufolge rückten am Mittwoch unter Befehl des Gaddafi-Gefolgsmanns Abdullah Megrahi Soldaten in Sawija ein. Megrahi habe die in der Moschee und auf dem zentralen Märtyrerplatz versammelten Demonstranten aufgefordert: „Entweder ihr geht, oder ihr erlebt ein Massaker“.
„Hau ab“
„Wir sagten ihm, wir gehen nicht. Entweder Tod oder Sieg“, berichtete der Augenzeuge. Am Donnerstagmorgen um 9 Uhr sei der Angriff erfolgt. Er sei erschüttert, dass libysche Soldaten mit automatischen Waffen auf ihre Landsleute geschossen und Luftabwehrraketen auf das Minarett der Moschee abfeuerten. Nach dem Blutbad hätten sich Tausende auf dem Platz versammelt und „Hau ab“ an die Adresse Gaddafis gebrüllt. „Die Leute haben eine klare Botschaft ausgesendet: Wir haben keine Angst vor dem Tod oder euren Kugeln.“ Sawija gilt wegen seiner Nähe zu einem Ölhafen und Raffinerien als strategisch wichtig.
Auf einem Flugplatz bei Misrata, der drittgrößten libyschen Stadt, schossen Milizionäre einem Anwohner zufolge auf eine Menschenkette, die schützend das Gelände umstellt hatte. Auch hier habe es viele Tote und Verletzte gegeben.
Ein Arzt sprach von zwei Toten - jeweils einer von jeder Seite - und mindestens fünf Verletzten. Das Personal auf der Basis habe sich auf die Seite der Aufständischen geschlagen und Kampfjets am Start gehindert. Bei den Kämpfen hätten Gaddafis Milizen auch Granaten und Mörser eingesetzt. Die Regierungsgegner erbeuteten nach seinen Worten ein Flugabwehrgeschütz von den Milizen und richteten es gegen sie. Ein Zeuge sprach sogar von „Leichenbergen und Blutlachen“.
Gaddafi: Bin Laden steckt hinter Unruhen in Libyen
Gaddafi machte Al-Kaida-Führer Osama bin Laden für die Massenproteste gegen sein Regime verantwortlich. Anhänger des Terrornetzwerks hätten jungen Libyern halluzinogene Tabletten in den Kaffee getan und sie auf diese Weise dazu gebracht, zu rebellieren, sagte Gaddafi am Donnerstag telefonisch im Staatsfernsehen.
Die Demonstranten seien „loyal gegenüber Bin Laden. „Das ist Al-Kaida, gegen die die gesamte Welt kämpft“. Extremisten des Terrornetzwerks würden Jugendliche ausnutzen. An die Bewohner Sawijas gerichtet sagte er: „Schämt euch, Leute von Sawija, und haltet eure Kinder unter Kontrolle.“
Seit Beginn der Unruhen am 15. Februar sind etliche Militäreinheiten zur Protestbewegung übergelaufen. „Was geschehen ist, ist schrecklich: Die, die uns angegriffen haben, sind keine Söldner, es sind Söhne unseres Landes“, sagte der Augenzeuge.
Opposition im Osten ruft zum „Marsch auf Tripolis“
Während vor allem der Osten und weite Teile des übrigen Landes nicht mehr unter Kontrolle Gaddafis stehen, halten dessen Truppen mit äußerster Gewalt die Hauptstadt und deren Umgebung. In den Außenbezirken sind Panzer in Stellung gegangen. Die Opposition im Osten hat zur „Befreiung“ von Tripolis aufgerufen. Am (morgigen) Freitag soll es einen „Marsch auf Tripolis“ geben. Der Augenzeuge in Sawija sagte, die Demonstranten dort würden sich nicht daran beteiligen.
Internationaler Druck nimmt zu
Unterdessen nahm der internationale Druck auf Gaddafi zu. Aus EU-Kreisen in Brüssel verlautete, ein militärisches Eingreifen werde erwogen. Konkrete Sanktionsbeschlüsse gab es noch nicht. Die EU-Innenminister rechnen mit einer beispiellosen Flüchtlingswelle aus Libyen, der italienische Innenminister Roberto Maroni erklärte, er gehe von „mindestens einer Million Flüchtlingen“ aus. Libyen hat sechs Millionen Einwohner.
Der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Werner Hoyer (FDP), hat Warnungen vor Flüchtlingsströmen aus Nordafrika und den arabischen Staaten als übertrieben bezeichnet. Verglichen mit der Zahl der Asylbewerber in Deutschland im Jahr 2010 sei die Lage noch nicht dramatisch, sagte Hoyer am Donnerstag in einer Aktuellen Stunde des Bundestags. Er räumte zugleich ein, dass sich dies ändern könnte, sollte die Gewalt insbesondere in Libyen anhalten.
Drei Kriegsschiffe der Bundeswehr sind unterwegs nach Libyen, um notfalls bei der schnellen Ausreise deutscher Staatsbürger zu helfen. Wie ein Sprecher des Verteidigungsministeriums am Donnerstag der dapd in Berlin sagte, werden die zwei Fregatten und der Einsatzgruppenversorger ihr Ziel erst in den kommenden Tagen erreichen. Sie sollen die Große Syrte ansteuern, eine weite Bucht an der Nordküste.
Heimkehr aus Libyen
Obama lässt "Optionen für den Umgang" mit Gaddafi prüfen
US-Präsident Barack Obama nannte das Leiden und Blutvergießen in Libyen „abscheulich und inakzeptapel“. Er habe seine Regierung angewiesen, Optionen für den Umgang mit dem Regime Gaddafis auszuarbeiten. Der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy brachte das Kappen der Wirtschaftsbeziehungen zu Libyen ins Gespräch. Weiter diskutiert wurde auch die von UN-Menschenrechtskommissarin ins Gespräch gebrachte Flugverbotszone über Libyen.
Italiens Präsident Giorgio Napolitano hat am Donnerstag betont, dass sein Land Sanktionen gegen die libysche Führung nicht ablehne. "Es gibt von italienischer Seite kein Veto. Wir sind durchaus bereit, mit anderen über Sanktionen zu beraten", betonte Napolitano am Rande eines Treffens mit Bundespräsident Christian Wulff in Berlin. "Wir haben uns auch der Verurteilung der Führungskräfte in Libyen angeschlossen", wies er Vorwürfe zurück, Italien verhindere eine entschlossenere EU-Position. Sein Land dringe aber auf ein umfassendes EU-Paket etwa gegen die befürchteten Flüchtlingsströme.
Dagegen äußerte sich Italiens Außenminister Franco Frattini in einem Interview mit der "Financial Times Deutschland" (Freitagsausgabe) skeptisch, wie wirkungsvoll Sanktionen sein könnten. Sowohl das Einfrieren libyscher Auslandsguthaben in der EU als auch Reisebeschränkungen seien wirkungslos.
Schweiz sperrt mögliche Gaddafi-Konten im Land
Die Schweiz sperrt mit sofortiger Wirkung sämtliche möglichen Vermögen des libyschen Machthabers Muammar el Gaddafi und seines Umfeldes im Land. Damit solle "jedes Risiko einer Veruntreuung von staatlichem libyschem Eigentum" vermieden werden, erklärte das Schweizer Außenministerium am Donnerstag. Die Maßnahme gelte ab sofort und habe eine Dauer von drei Jahren, hieß es in der Erklärung des Ministeriums.
Die Schweizer Regierung "verurteilt die von dem libyschen Machthaber angewandte Gewalt gegen das Volk auf das Schärfste", erklärte das Ministerium weiter. In Folge dessen sei entschieden worden, mögliche Gelder Gaddafis in der Schweiz einzufrieren.
Der Vorsitzende der italienischen katholischen Kirche, Angelo Bagnasco, rief unterdessen "ganz Europa" dazu auf, die in erster Linie von eventuellen Flüchtlingsströmen aus Libyen betroffenen Länder zu unterstützen. Italien sei als eines der nächsten Länder besonders betroffen, zitierte die Nachrichtenagentur ANSA Bagnasco am Donnerstag. "Wenn wir den Flüchtlingen eine menschliche und konkrete Antwort geben wollen, muss ganz Europa vereint sein und konkrete Wege finden", sagte er demnach. Italien befürchtet nach Angaben des Innenministeriums bei einem Zusammenbruch der Staatsordnung in Libyen eine "Invasion von 1,5 Millionen Menschen".
Vertrauter Gaddafis setzt sich nach Ägypten ab
Ein enger Vertrauter Gaddafis, Ahmed Gadhaf al-Dam, teilte mit, er sei aus Protest gegen „das blutige Vorgehen gegen den Aufstand“ nach Ägypten geflohen. Er verurteile „schwere Verstöße gegen Menschenrechte und internationales humanitäres Recht“. Gadhaf al-Dam ist ein Cousin Gaddafis.
Unterdessen verließen immer mehr Ausländer Libyen. In Sawija seien die am Mittelmeer gelegenen Raffinerien und der Ölhafen ohne Polizeischutz, sagte der Augenzeuge. Anwohner hätten Bürgerwehren gebildet. Gaddafi-Anhänger hätten ägyptische und chinesische Beschäftigte von Baufirmen in der Stadt angegriffen. Zwei griechische Fähren brachten unterdessen 4.500 Chinesen von Libyen nach Kreta.
Spritpreise auf Höhenflug
Die Kämpfe in Libyen führen zu immer höheren Preisen für Benzin, Diesel und Heizöl in Deutschland. In der Bundesrepublik kostete Superbenzin in vielen Regionen am Donnerstag bereits 1,53 Euro, Diesel kam auf 1,43 Euro pro Liter, jeweils drei Cent mehr als am Vortag. Die EU ist in Sorge, weil sich die Inflation nun beschleunigen könnte.
Nach Einschätzung des italienischen Ölkonzerns Eni, des größten Produzenten in Libyen, ist die Förderung in dem nordafrikanischen Staat wegen der Unruhen von 1,6 auf 1,2 Millionen Barrel zurückgegangen. (dapd)