Berlin/Brüssel. Seine Geheimdienste alarmieren den ukrainischen Präsidenten: Putin bereite eine Offensive vor. Was steckt dahinter, was sagt die Nato?
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj warnt vor Aufmarschplänen für einen neuen russischen Angriff – Ziel sei womöglich das östliche Nato-Gebiet. Bei der Münchner Sicherheitskonferenz machte Selenskyj eine Andeutung, sprach von der Verlegung von Soldaten nach Belarus, nannte aber keine Details. Doch die Erkenntnisse sind viel präziser und beunruhigender – und sie beruhen auf übereinstimmenden Erkenntnissen mehrerer ukrainischer Geheimdienste.
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Demnach will der russische Präsident Wladimir Putin dieses Jahr neue Einheiten mit zusätzlich 150 000 Soldaten aufstellen, von denen viele nach Belarus zur militärischen Ausbildung und in Manöver geschickt werden sollen. Wie viele Soldaten genau in dem mit Russland verbündeten Land üben sollen, ist unklar.
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Putins Truppen in Belarus: Wiederholt Putin seine Taktik vom Angriff auf die Ukraine?
Selenskyj spricht unter Berufung auf die Geheimdienst-Berichte davon, dass zumindest Teile dieser 10 bis 15 neuen Divisionen, „vielleicht 100 000 Soldaten“, nach Belarus verlegt werden sollen. Das Problem: Ähnliche Truppenbewegungen gab es auch im Vorfeld des Angriffs auf die Ukraine.
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Beim Manöver Sapad übten im September 2021, fünf Monate vor Kriegsbeginn, mindestens 50 000 Soldaten im westlichen Russland und zum kleineren Teil in Belarus. Die Soldaten kehrten wieder zurück, aber Waffen und andere Ausrüstung blieben zum Teil vor Ort. Wenige Wochen vor der russischen Invasion folgte ein weiteres Manöver mit 30.000 russischen Soldaten in Belarus – sie nutzten das Land als Aufmarschgebiet für den kurz danach folgenden Angriff. Selenskyj fürchtet mit den geplanten, größeren Übungen in Belarus eine Wiederholung dieser Taktik: „Glauben Sie mir, das ist die Vorbereitung eines Brückenkopfes für Angriffsaktionen“, sagte er dem britischen „Economist“.
Selenskyj warnt: Russland plant in Belarus Brückenkopf für Angriff
Es sei nicht gesagt, dass ein solcher Angriff auf die Ukraine zielen würde. Putin könne von Belarus, wo Russland inzwischen auch taktische Atomwaffen stationiert hat, auch nach Litauen oder Polen gehen und diese Länder besetzen. Noch während die Ukraine den Russen standhalte, könne Putin einen Brückenkopf für eine große Zahl von Soldaten vorbereiten und dann über diesen Brückenkopf in eine andere Richtung marschieren. „Wie schnell werden ihre Bündnispartner reagieren – und werden sie überhaupt reagieren?“, fragt der ukrainische Präsident.

Selenskyj weiß selbst, wie seine Warnung wirken könnte: Wie ein Störmanöver für mögliche Friedensverhandlungen zwischen den Präsidenten Donald Trump und Wladimir Putin. Aber er versichert, er mache die Informationen nur öffentlich, weil sie von mehreren seiner Geheimdienste stammten und die unterschiedlichen Berichte eine große Übereinstimmung aufwiesen. Erst vor wenigen Tagen hatte auch der dänische Militärgeheimdienst DDIS davor gewarnt, Russland könne schon innerhalb von sechs Monaten einen lokalen Krieg mit einem Nachbarland beginnen und innerhalb von zwei Jahren einen regionalen Krieg in der Ostseeregion führen.
Geheimdienst warnt: Russischer Angriff auf Europa in fünf Jahren
Dabei hatte der dänische Dienst Szenarien durchgespielt für den Fall, dass es zu einem Waffenstillstand in der Ukraine kommt. Der Bericht betont aber, es sei unwahrscheinlich, dass Russland gleichzeitig den Krieg in der Ukraine und mit einem Nato-Land durchhalten könne. Ein groß angelegter Angriff auf Europa könne Russland demnach in fünf Jahren starten, wenn der Ukraine-Krieg mindestens eingefroren sei und der Kreml die Nato als geschwächt wahrnehme – und mithin davon ausgeht, dass die USA nicht eingreifen würden.
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Der ukrainische Präsident verweist auf die fortschreitende Truppenaufstockung der russischen Armee, die ein Beleg für den fehlenden Friedenswillen Putins sei. Die russische Armee verfüge über 220 Kampfbrigaden mit jeweils 3500 bis 5000 Soldaten, die Ukraine über 110 – Europa aber nur über 80. „Ohne die Ukraine wird Europa besetzt“, warnt der Präsident. „Wir halten eine Million Russen zurück.“
Nato-Chef Rutte droht Putin mit voller Härte der Allianz
Nato-Generalsekretär Mark Rutte äußerte sich auf der Münchner Sicherheitskonferenz überzeugt, dass Putin derzeit einen Angriff auf einen Mitgliedsstaat der Militärallianz nicht wagen würde. Sollte dies dennoch passieren, müsse Moskau mit der vollen Härte der Nato rechnen, versicherte Rutte. Nach seiner Einschätzung ist die Nato gegenwärtig gut gewappnet gegen einen Angriff. In dieser Lesart ist vielmehr damit zu rechnen, dass Putin solche Manöver als Drohkulisse und zur Verunsicherung des Westens benutzt.
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Sorgen bereitet dem Nato-Chef aber, dass Russland massiv aufrüstet – und in vier bis fünf Jahren in der Lage wäre, die Nato an der Ostflanke zumindest militärisch herauszufordern, um die Reaktionsbereitschaft zu testen. Auch in ein solches Szenario würde aber Selenskyjs Warnung vor den Brückenkopf-Plänen passen.
Abschreckung funktioniert nur, wenn die USA an der Seite Europas stehen
Bislang ist das wichtigste Element der Nato-Abschreckungsstrategie die mögliche Eskalation zu einem Atomwaffeneinsatz der westlichen Allianz, nach den Nato-Plänen aus dem Nukleararsenal der USA. Doch die Abschreckung funktioniert nur so lange, wie Russland fürchten muss, dass die USA tatsächlich zur Verteidigung Europas einen Krieg mit Atomwaffen riskieren würde.
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
Die politische Führung in Belarus weist Selenskyjs Warnungen zurück: „Wir stellen für niemanden eine Gefahr dar, erhöhen weder die Truppenstärke noch die Anzahl der Waffensysteme – im Unterschied zu unseren Nachbarn, den Polen und Balten, die auf Militarisierung setzen“, sagte der Sekretär des nationalen Sicherheitsrats in Belarus, Alexander Wolfowitsch, in Minsk. Um niemanden zu provozieren, seien in diesem Jahr auch keine Übungen nahe der Grenze zu den Nato-Staaten geplant.
Belarus plane im laufenden Jahr rund hundert Manöver, darunter auch gemeinsame mit dem Bündnispartner Russland. Das seien so viele wie im Vorjahr. Während Wolfowitsch den Verzicht auf Übungen nahe der Grenze zu Polen und den baltischen Staaten als „Beispiel gut nachbarschaftlicher Beziehungen“ hervorhob, sagte er zu möglichen Manövern nahe der Ukraine nichts.