Berlin. Experten glauben, dass sich die Terrorgruppe rasch wieder erholt. Ein Mann spielt dabei eine besondere Rolle. Er ist kein Unbekannter.
Seit dem 7. Oktober 2023 führt die israelische Armee Krieg in Gaza gegen die Hamas. Doch auch die stärkste Armee im Nahen Osten schaffte es nicht, die Organisation zu vernichten. Die Hamas hisste nicht die weiße Fahne über den Ruinen. Mit der vor mehr als 30 Jahren gegründeten Islamistengruppe ist weiter zu rechnen, auch wenn sie Tausende Kämpfer und ihre wichtigsten Führer verloren hat. Doch wie tiefgreifend die Hamas tatsächlich geschwächt wurde, ist schwer fassbar.
Die israelischen Streitkräfte töteten im Juli den Anführer des bewaffneten Arms, Mohammad Deif. Wenig später kam Ismail Hanija bei einer Explosion in Teheran ums Leben; im Oktober starb dann Hamas-Chef Jihia Sinwar, er hatte den Terrorangriff auf Israel geplant. Die israelische Militäroffensive dezimierte die 21 Bataillone der Kassam-Brigaden der Hamas erheblich. Etwa 20.000 bewaffnete Hamas-Mitglieder könnten nach Schätzungen des israelischen Militärs getötet worden sein. Genau weiß man es nicht.
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Israel hat auch den kleinen Bruder des getöteten Hamas-Chefs im Visier
Nun soll der zehn Jahre jüngere Bruder von Jihia Sinwar nicht nur die Truppen reorganisieren. Nach Informationen des „Wall Street Journal“ soll es Mohammed Sinwar gelungen sein, die Macht in Gaza zu übernehmen und auch zu festigen. Die Zeitung zitiert warnend einen pensionierten israelischen Brigadegeneral. Amir Avivi ist der Auffassung, dass sich die Hamas unter Führung von Mohammed Sinwar schneller wieder aufstelle, als Israels Armee sie auslösche. Die Israelis haben ihn längst ins Visier genommen, weil auch er einer der Planer des Massakers vom 7. Oktober 2023 gewesen sein soll.
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Der kleine Bruder des einstigen Hamas-Chefs wurde 1975 in einem Flüchtlingslager in Chan Yunis, der zweitgrößten Stadt in Gaza, geboren. In den 90er-Jahren saß er mehrere Jahre in israelischen Gefängnissen. Wieder in Freiheit, übernahm er die Führung der Chan-Yunis-Brigade der Hamas. 2014 erklärte ihn die Hamas für tot, um den israelischen Geheimdienst abzulenken. In Wirklichkeit soll er sich unter der Erde in den weitverzweigten Tunnelsystemen versteckt haben.
Gaza: 40 Prozent der Tunnelanlagen könnten noch intakt sein
Was jetzt im Gazastreifen noch übrig ist, ist schwer zu zerstören. Israelische Experten schätzen, dass bis zu 40 Prozent der Tunnel noch intakt sind. Dort könnten weiterhin große Mengen an Waffen und Munition lagern. Zudem gebe es Orte im Gazastreifen, die Israel noch nicht betreten habe.
„Die Hamas hatte über 20 Jahre Zeit, um eine massive Menge an Feuerkraft anzusammeln, die sie in vielen Bereichen, einschließlich ihres weitreichenden unterirdischen Tunnelsystems, verteilt haben“, sagte Eitan Shamir, Direktor des Begin-Sadat-Zentrums für Strategische Studien an der Bar-Ilan-Universität, gegenüber dem israelischen Onlinedienst „The Media Line“. „Zusammen mit anderen Terrororganisationen, wie dem Palästinensischen Islamischen Dschihad, sind es ungefähr 30.000 Kämpfer. Es könnte zwei bis drei Jahre dauern, um sie loszuwerden.“
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Israel konnte 15 Monate lang die Hamas militärisch nicht unterwerfen und schreckt gleichzeitig davor zurück, den Gazastreifen unter seine Militärherrschaft zu stellen. Die am 10. Dezember 1987 gegründete „Islamische Widerstandsbewegung“ (Hamas) hat bisher alle Offensiven überlebt und sich immer wieder neu organisiert. „Die Hamas-Maschine reproduziert sich selbst. Dieser Konflikt dreht sich nicht um Persönlichkeiten – sie sind wichtig –, sondern darum, einen neuen Prozess zu starten, der von Sinwars Eliminierung profitiert“, sagte Ibrahim Dalalsha, Leiter des in Ramallah ansässigen Thinktanks Horizon Center, der „Financial Times“.
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Die wichtigsten Verbündeten der Hamas sind geschwächt
Die Hamas musste zwar ihre bisher schwersten Verluste in Gaza hinnehmen. Doch gleichzeitig ist sie im Westjordanland unter konservativen Muslimen verwurzelt. Auch dort kämpfen die israelischen Streit- und Sicherheitskräfte – mit großer Härte – eine Offensive gegen sie, ohne den Islamisten den Todesstoß zu versetzen.
Die Lage ist jedoch schwieriger geworden, denn die wichtigsten Verbündeten der Hamas sind ebenfalls geschwächt: Die schiitische Hisbollah-Miliz kämpft im Libanon um Einfluss und Überleben. Iran hat mit Syrien einen seiner wichtigsten Verbündeten verloren; über Syrien waren Waffenbrüder Irans mit Nachschub versorgt worden.
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Hamas will sich weiter als Speerspitze im Kampf gegen Israel profilieren
Die jüngsten Verhandlungen zeigen zudem, dass die Hamas auch im Ausland immer noch über diplomatisch einsatzfähige Führungskräfte verfügt. Ende 2024 dementierte die katarische Regierung, dass das Hamas-Büro in Doha permanent geschlossen worden sei. Katar half auch den jüngsten Deal zu vermitteln, hatte zuvor aber die Geduld mit der Hamas verloren. Der ranghöchste Hamas-Führer außerhalb des Gazastreifens, Khalil Hayya, und andere wichtige Mitglieder seines Verhandlungsteams sollen Doha zeitweise verlassen haben. Angeblich waren sie immer wieder in der Türkei. Laut BBC hielten sie ihre Aufenthaltsorte geheim, um die Gastgeberländer nicht in Verlegenheit zu bringen.
Die Hamas hat nicht resigniert. Sie hofft, sich als Speerspitze des Kampfes gegen Israel zu profilieren. Das zeigen die zähen Verhandlungen über den Gefangenenaustausch. Er soll ihr Prestige gegenüber der Autonomiebehörde und ihrem Präsidenten Mahmud Abbas in Ramallah stärken. Deshalb verlangte die Hamas die Freilassung prominenter Häftlinge wie Marwan Barghouti von der rivalisierenden Fatah-Organisation. Das würde für die Islamisten einen großen Imagegewinn bedeuten – ein wichtiger Grund, weshalb sich Israels Regierung heftig dagegen wehrte, ihn freizugeben.
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