Essen/Gazastreifen. Ali Alhadschar und seine Familie leben in Trümmern, die Kinder können vor Kälte nicht schlafen. Die Waffenruhe ist ein Lichtblick.
In den Stunden vor der erlösenden Nachricht ist Ali Alhadschar aufgewühlt. „Ich spüre, wie mein Herzschlag fast meine Kleidung zerreißt“, schreibt er. Der Geisel-Deal, den das Büro von Benjamin Netanjahu am frühen Freitagmorgen verkünden wird, ist da schon in greifbarer Nähe. Nach 15 Monaten in der Hölle gibt es Hoffnung. Er fragt ungläubig: „Werden wir wirklich überleben?“ Als am Mittwochabend klar ist, dass es ab Sonntag eine Waffenruhe geben soll, und die Menschen im Gazastreifen feiern, ist auch Alhadschar glücklich: „Das sind historische Momente, die die Menschen in Gaza niemals vergessen werden. Es bedeutet das Ende ihres Leidens, das fast 15 Monate lang gedauert hat, mit Töten, Vertreibung, Hunger, Entbehrung und Kälte.“
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Ali Alhadschar ist einer der rund zwei Millionen Menschen, die in dem schmalen Küstenstreifen leben. Vor dem 7. Oktober 2023 wohnt er mit seiner damals hochschwangeren Frau und seinen vier Kindern in einem Haus in Rafah im Süden des Gazastreifens. Mit seinem richtigen Namen kann er nicht in der Zeitung stehen. Er ist ein Kritiker der Hamas. Und Kritik an Islamisten ist lebensgefährlich.
Unsere Redaktion ist seit vielen Monaten im engen Austausch mit Alhadschar. Er schreibt jeden Tag, schildert seinen Kampf ums Überleben, schickt Bilder und Videos.
Gaza: Alhadschar wusste von Anfang an – Israel würde hart zurückschlagen
Der Terrorüberfall der Hamas und ihrer Verbündeten hat auch für die Menschen im Gazastreifen alles verändert. Alhadschar sieht am 7. Oktober die Raketen, die Richtung Israel fliegen und hört aus den Nachrichten, was geschehen ist. Er sieht in den sozialen Medien die Gräueltaten der Terroristen. In den Jubel vieler Menschen im Gazastreifen kann er nicht einstimmen.
Die Verbrechen der Hamas sind für ihn „erschreckend und widersprechen islamischen Werten“. Alhadschar weiß auch: Israel wird hart zurückschlagen. In den Monaten, nachdem die Hamas Israel den Krieg erklärt hat, zerfällt seine Welt in Schutt und Asche. Er und seine Familie werden wie Hunderttausende andere Menschen im Gazastreifen zu Flüchtlingen, ihr Haus in Rafah wird zerstört, so wie Zehntausende andere Gebäude.
Mitte vergangenen Jahres spricht die UN-Entwicklungsagentur UNDP vom schlimmsten Ausmaß der Zerstörung seit 1945. Zu diesem Zeitpunkt sollen bereits 370.000 Wohneinheiten beschädigt und 79.000 zerstört worden sein. Getroffen werden auch Schulen und Krankenhäuser.
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Hamas veröffentlicht immer wieder Videos mit Kämpfern in ziviler Infrastruktur
Die israelischen Streitkräfte behaupten immer wieder, die Hamas nutze diese Einrichtungen als Kommandozentralen, Waffendepots und Zugängen zu dem weit verzweigten Tunnelsystem unter dem Gazastreifen. Überprüfen lässt sich das nicht. Aber die Hamas selbst veröffentlicht regelmäßig Videos, auf denen zu sehen ist, wie ihre Kämpfer in ziviler Kleidung und aus ziviler Infrastruktur heraus angreifen. Die israelische Militärdoktrin besagt: Der Schutz der eigenen Soldaten steht an erster Stelle. Angriffe werden mit massiven Gegenschlägen beantwortet.
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Bis Anfang 2025 sollen auf palästinensischer Seite über 46.000 Menschen getötet worden sein. Wie viele von ihnen Zivilisten, wie viele Kämpfer sind, ist nicht klar. Die Gesundheitsbehörden, die die Zahlen veröffentlichen, werden von der Hamas kontrolliert. Auf israelischer Seite sind über 400 Soldaten gefallen. Ali Alhadschar trauert um alle Toten.
„Junge Männer in ihrer Blütezeit. Sie haben umsonst mit ihrem Leben bezahlt“, schreibt er unter den Bildern von fünf israelischen Gefallenen. „Hamas beleidigt den Islam“ unter den Bildern von Youssef und Hamza al Zayadna, israelischen Geiseln, deren Leichen im Januar in einem Tunnel gefunden werden. Er sendet Videos von verbrannten Zelten oder solchen, die im Regen versinken, von Hunden, die Leichen fressen. „Es ist ein schmutziger Krieg“, klagt er.
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Gaza: Alis Kinder können vor Kälte nicht schlafen
Alhadschar berichtet von den Kindern, die in Trümmern Brennholz suchen, während neben ihnen Sanitäter Tote bergen. Von seinen mittlerweile fünf Kindern, die nach der Zerstörung ihres Wohnhauses in Rafah in Khan Yunis im Freien leben müssen und nicht schlafen können, weil es so kalt geworden ist. Er kritisiert „ethnische Säuberungen“ durch die israelische Armee, die die Menschen immer wieder auffordert, vor Kampfhandlungen zu fliehen. Hass und Wut sind ihm fremd: „Ich weiß, dass es auf der israelischen Seite diejenigen gibt, die ebenfalls unter diesem Krieg gelitten und einen ungerechten Preis bezahlt haben. Und ich weiß, dass es diejenigen gibt, die sich dem widersetzen, was uns widerfahren ist, und Frieden wollen.“
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Mitte Dezember schickt er ein Bild der Familie. Vor den Kindern steht ein Sack Mehl, sie haben ihn vom Welternährungsprogramm erhalten. „Wir sind glücklich“, schreibt Alhadschar. Seit einem Monat hätten sie kein Brot mehr gegessen. Die Nahrungsmittelknappheit im Gazastreifen ist massiv. Weil Israel nicht alle Transporte hereinlässt, aber auch, weil Hamas-Kämpfer Hilfstransporte plündern, wie Alhadschar berichtet. „Eineinhalb Jahre lang haben meine Kinder kein Obst, kein Fleisch und keine Milchprodukte gegessen.“
So sehr sich Alhadschar auch über ein mögliches Ende des Krieges freut: Im Gazastreifen sieht er für sich und seine Familie keine Zukunft mehr. „Das physische Töten wird aufhören, aber das psychische Töten geht weiter.“ Häuser, Bauernhöfe, Schulen, Universitäten, Krankenhäuser, Straßen, Infrastruktur und Elektrizität seien zerstört und der Gazastreifen für viele Jahre unbewohnbar. Die Familie sei schwer traumatisiert. „Wir werden Gaza verlassen müssen. Unser Überleben dieses Mal bedeutet keine Garantie für unser Überleben die anderen Male.“
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