Jerusalem. Der israelische Professor Yagil Levy erklärt, wie die Zahlen der Toten zu verstehen sind und warum die Armee dieses Mal anders vorgeht.

Wie viele Tote gibt es in Gaza wirklich, und ist die Zahl wirklich höher als in anderen bewaffneten Konflikten? Der israelische Soziologe Yagil Levy beschäftigt sich seit Beginn des Gazakriegs mit den Zahlen und hat herausgefunden, dass es in diesem Krieg mehr tote Zivilisten gibt als in allen anderen Kriegen der vergangenen dreißig Jahre. Und er erklärt auch, warum: Anders als früher achte Israel heute viel stärker darauf, dass so wenige Soldaten wie möglich im Krieg ums Leben kommen, sagt Levy, der Professor für Politik und Soziologie an der Open University in Ra‘anana ist.

Experte: Dutzende getötete Zivilisten für einen einzigen Hamas-Terroristen

„Der große Wendepunkt war der Erste Libanonkrieg im Jahr 1982“, so Levy. „Nach der ersten Kriegswoche gingen Eltern auf die Straße, sie beklagten den Tod ihrer Söhne.“ Dann versammelten sich auch Reservesoldaten zu Protesten vor dem Haus von Ministerpräsident Menachem Begin. „Sie hielten Schilder mit der Zahl der getöteten israelischen Soldaten hoch – und natürlich mussten sie die Zahlen ständig korrigieren.“ Danach änderte sich alles: Im Zweiten Libanonkrieg wurde sogar die Bodenoffensive so lange wie möglich verschoben – weil man wusste, dass sie viele Verluste unter den eigenen Soldaten bringen würde.

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Laut Levy ist der aktuelle Krieg ein Extrembeispiel für den Versuch, möglichst viel Schaden von der eigenen Armee abzuwenden: „In den ersten drei Kriegswochen, als Israel sich noch auf Luftangriffe beschränkte, sahen wir immens hohe Todeszahlen unter Zivilisten in Gaza. In manchen Fällen wurden Dutzende Zivilisten getötet, um an einen einzigen Hamas-Terroristen heranzukommen“, sagt Levy. Dahinter steckte nicht nur die Logik, dass die Hamas ausgeschaltet werden muss. „Es ging vor allem darum, die Bodenoffensive vorzubereiten. Man brauchte diese Aufweichattacken, damit die Bodentruppen danach Straßenkämpfe durchführen können, ohne selbst zu hohe Risiken einzugehen.“

„Zahlen des Gesundheitsministeriums in Gaza relativ vertrauenswürdig“

Das zeige sich auch in den Zahlen: Das Verhältnis getöteter israelischer Soldaten zur Zahl der getöteten Zivilisten in Gaza liege bei 1:60, sagt Levy. Insgesamt sind laut dem Gesundheitsministerium in Gaza seit dem 7. Oktober 2023 fast 42.000 Menschen im Gazastreifen getötet worden. Im Afghanistan-Krieg betrug das Verhältnis 1:35.

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Auch bei der Bodenoffensive seien die Regeln der israelischen Armee heute lockerer als früher, sagt Levy. „Die Armeekommandanten definieren bestimmte Gebiete in Gaza als Kampfzonen und rufen die Zivilisten auf, das Gebiet zu verlassen. Jeder, der dann noch da ist, wird als legitimes Ziel betrachtet.“ Außerdem gebe es starke Hinweise darauf, dass die Armee in Gaza jeden Mann als potenziellen Hamas-Kämpfer definiert, während nur Frauen und Kinder als Zivilisten gerechnet werden. Was dahinter stecke, sei auch ein Motiv der Rache, glaubt Levy: Nach dem Massaker der Hamas an der israelischen Zivilbevölkerung gab es in weiten Teilen der Armee das Gefühl, dass die Bevölkerung in Gaza für die Verbrechen an unschuldigen Israelis zu zahlen habe.

Woher wissen wir aber, wie viele tote Zivilisten es gibt – sind die Zahlen der Hamas nicht zu hinterfragen? Diese Frage hat sich auch Levy gestellt. Er kommt nach Analysen der Zahlen vergangener Kriege zum Schluss, dass „die Zahlen des Gesundheitsministeriums in Gaza relativ vertrauenswürdig sind“. Er kritisiert Israels Armee dafür, keine eigenen Angaben über getötete Zivilisten zu machen. „Israel hat so viele Möglichkeiten, die Zahlen der Hamas zu widerlegen. Es ist nicht passiert.“