Berlin/Tel Aviv. Die Hamas hat Aviva Siegel und ihren Mann Keith aus ihrem Kibbuz entführt. Sie ist freigelassen worden, er noch immer in Gefangenschaft.
Aviva Siegel erlebt in diesen Tagen wieder ein grausames Wechselbad der Gefühle. In der vergangenen Woche fanden die israelischen Streitkräfte die Leichen von Youssef und Hamza Ziyadne im Süden des Gazastreifens. Vater und Sohn, am 7. Oktober 2023 beim Terrorüberfall der Hamas verschleppt. So wie Aviva und ihr Ehemann Keith. Am Donnerstag gab sich der scheidende US-Präsident Joe Biden optimistisch. Die Verhandlungen mit der Hamas in Doha machten Fortschritte. „Ich will ihn endlich zu Hause haben“, sagt Aviva. Sie ist frei. Ihr Keith ist immer noch in Geiselhaft.
Das Geiseldrama ist ein Trauma für die israelische Gesellschaft. Seit vielen Monaten gehen an jedem Samstag Tausende Demonstranten auf die Straße, um Druck auf die Regierung auszuüben. Sie fordern einen Waffenstillstand, einen Deal, um endlich die 94 Geiseln freizubekommen, die noch immer im Gazastreifen festgehalten werden. Ein Drittel von ihnen soll bereits tot sein.
„Ich kämpfe von morgens bis abends“, sagt Aviva Siegel. Sie sitzt in ihrer Wohnung in Tel Aviv vor der Kamera ihres Computers, eine Frau mit grauen Locken, energisch, wortgewaltig. Die 63-Jährige ist gerade erst aus den USA zurück nach Israel gekommen. Sie hat wieder viele Gespräche in Washington mit Politikern geführt. Aviva Siegel will, dass Keith und die anderen nicht vergessen werden.
„Sie haben ihm in die Hand geschossen“
Als vor über 460 Tagen palästinensische Extremisten die Tore zur Hölle öffnen und über Land, Luft und Meer in Israel eindringen, 21 Kibbuzim nahe der Grenze stürmen und ein Techno-Festival überfallen, zerbricht auch die heile Welt des Ehepaars Siegel. Er stammt aus North Carolina in den USA, sie aus Südafrika. Zusammengekommen sind sie in Israel.
„Keith ist ein sanftmütiger, ein liebevoller Mann und Ehemann. Er würde alles für andere Menschen tun“, erzählt seine Frau. Vor dem Überfall hatte Keith Arabisch gelernt, um sich mit den Palästinensern verständigen zu können, die in den grenznahen Kibbuzim Arbeit gefunden hatten.
Der Kibbuz Kfar Aza ist mehr als vier Jahrzehnte lang das Zuhause der beiden. An dem Tag, der als schwarzer Schabbat in die Geschichte Israels eingehen wird, geht die kleine Gemeinschaft in Flammen auf. 62 der Bewohner von Kfar Aza werden ermordet, ein Dutzend verschleppt. Darunter auch Keith und Aviva. „Sie haben ihm in die Hand geschossen und ihm die Rippen gebrochen.“
Die Geiselhaft ist eine Tortur. „Was wir in Gaza erlebt haben, war das Schlimmste, was Menschen durchmachen müssen“, erzählt Aviva Siegel. Sie werden immer wieder von einem Ort zum nächsten verlegt, werden beschimpft und bedroht, erhalten kaum Nahrung, kaum Wasser, dürfen sich nicht bewegen, schlafen ohne Decken auf dreckigen Matratzen.
„Man konnte den Hass in ihren Augen sehen“
Hamas-Kämpfer belästigen entführte junge Frauen, erzählt Siegel. „Sie haben uns wie Dreck behandelt. Man konnte den Hass in ihren Augen sehen.“ Immer wieder schießen die Terroristen Raketen aus Gebäuden nah der Geiselverstecke. Die Geiseln dienen als menschliche Schutzschilde.
Nach 51 Tagen kommt Aviva Siegel frei. Sie wird im November wie 104 andere Geiseln gegen 250 palästinensische Gefangene ausgetauscht. „Ich hatte nicht mehr gedacht, dass wir jemals aus Gaza herauskommen würden.“ Als sie sich von ihrem Ehemann verabschiedet, bittet sie ihn, für sie stark zu bleiben. „Ich habe ihm versprochen, für ihn stark zu sein. Und das versuche ich. Ich rede und rede und rede, um ihn freizubekommen.“
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Seit ihrer Freilassung sind es vor allem schlimme Nachrichten, die Schlagzeilen machen. 39 Geiseln wurden bislang tot geborgen. Das Militär konnte lediglich acht Geiseln lebend retten. Im April erschien ein Lebenszeichen von Keith Siegel, ein Video, in dem er um sein Leben fleht und weint. Aviva Siegel kann es sich nicht anschauen, es ist zu viel für sie. Die Ungewissheit ist fürchterlich, nicht nur für sie. Die beiden sind Eltern von vier Kindern und Großeltern von sechs Enkeln.
Die palästinensischen Zivilisten im Gazastreifen leben bereits jetzt in der Hölle
Anders als andere Angehörige von Geiseln hegt Aviva Siegel keinen Groll gegen die eigene Regierung. Häufig wird Premier Benjamin Netanjahu vorgeworfen, einen Deal zur Rettung der Geiseln zu verhindern. „Ich merke, dass mein Land Keith und die anderen nach Hause bringen will“, sagt hingegen die 63-Jährige. Sie glaubt an die Politik und setzt jetzt auch auf Donald Trump. Der kommende US-Präsident hat angekündigt, im Nahen Osten werde die „Hölle aufbrechen“, falls die Geiseln nicht vor seiner Amtsübernahme am 20. Januar freigelassen würden.
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Ob die Hamas sich von solchen Drohungen beeindrucken lässt, ist fraglich. Die Islamisten publizieren auf ihren Kanälen noch immer Durchhalteparolen und Videos, auf denen zu sehen ist, wie ihre Kämpfer das israelische Militär attackieren oder Raketen nach Israel abfeuern.
Die palästinensischen Zivilisten im Gazastreifen leben bereits jetzt in der Hölle. Weite Teile des Küstenstreifens liegen nach den israelischen Bombardements in Ruinen, über 46.000 Menschen sollen bereits bei den Kampfhandlungen gestorben sein. Die Überlebenden leiden unter Hunger, Obdachlosigkeit und dem Zusammenbruch der Gesundheitsversorgung.
Mehr von Israel-Korrespondentin Maria Sterkl
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Aviva Siegel leidet noch immer unter dem Grauen des 7. Oktober. Nicht nur, weil Keith noch immer in Geiselhaft ist. In der vergangenen Nacht ist sie aufgewacht. Ein Vogel hatte Krach auf dem Dach des Hauses gemacht. „Ich hatte Angst. Ich habe gedacht, die Hamas ist wieder da.“