Berlin. Joachim Gauck über den Erfolg der AfD und des Bündnisses Sahra Wagenknecht, die Mauer in den Köpfen und die Abschiebung krimineller Ausländer.

Er war einer der beliebtesten Bundespräsidenten, und sein Wort hat immer noch Gewicht. Im Interview spricht Joachim Gauck (84) unter anderem über die Gefahren für die Demokratie in Deutschland, den Erfolg der AfD und des Bündnis Sahra Wagenknecht, Adolf Hitler, die Mauer in den Köpfen, die Angst vor unkontrollierter Zuwanderung, die Abschiebung krimineller Ausländer, Taurus-Marschflugkörper für die Ukraine, Putin und die deutsche Zeitenwende.

Herr Gauck, Ihr neuestes Buch heißt „Erschütterungen: Was unsere Demokratie von außen und innen bedroht“. Ist die Demokratie in Deutschland gefährdet?

Joachim Gauck: Ich befürchte nicht den Untergang der Demokratie. So weit werden wir es mit der Erfahrung zweier Diktaturen im Hinterkopf nicht kommen lassen. Die Situation ist nicht vergleichbar mit der Weimarer Republik. Damals hatten wir eine gute Verfassung, aber zu wenig Demokraten. Jetzt haben wir zum Glück eine aktive Bürgerschaft. Gleichwohl beschreibe ich in meinem Buch, dass nicht nur in Deutschland und Europa eine Verunsicherung die Menschen ergriffen hat. Nun haben bei drei Landtagswahlen in Ostdeutschland eine Rechts-außen-Partei und eine populistische Partei von Linksnationalisten maßgebliche Stimmengewinne erlangt.

Auch interessant

Wie erklären Sie sich die Erfolge des Bündnisses Sahra Wagenknecht und der AfD?

Gauck: Fehler der Regierung und ungeregelte Probleme lösen bei einem Teil der Wählerschaft Angst aus. Wenn diese Menschen von den Parteien der Mitte keine angemessene Reaktion auf ihre Ängste erfahren, betätigen sie sich als Wählerinnen und Wähler woanders.

Warum verfangen die ausländerfeindlichen Forderungen der AfD im Osten stärker als im Westen?

Gauck: Das lässt sich rational nicht erklären. Aber ein Teil des Wahlvolkes und auch einige politische Akteure sind mit rationalen Argumenten nicht mehr zu erreichen. Unsere humanitären Verpflichtungen und der Zusammenhalt in Europa interessieren die AfD nicht. Als Bürger einer Exportnation muss ich mich doch fragen: Wo soll das hinführen? Jedem, der sich unsere Wirtschaft anschaut, wird klar, dass dieses Land ohne den Zuzug von Arbeitskräften nicht erfolgreich sein kann. In Deutschland werden einfach zu wenig Kinder geboren, und es gibt einfach zu wenig arbeitsfähige und arbeitswillige Bio-Deutsche.

Warum wünschen sich viele Menschen dennoch eine Begrenzung der Zuwanderung?

Gauck: Zunächst: Es ist ein Gebot der politischen Vernunft, Zuwanderung zu steuern – und, wenn nötig, auch zu begrenzen. Wenn die traditionellen Parteien der Mitte die durch die Zuwanderung mitgebrachten Probleme nicht deutlich besprechen und aktiv gegensteuern, entsteht ein Gefühl von Kontrollverlust. „Wir schaffen das“ war eine gute Botschaft. Aber wenn darauf nicht folgt, wie wir das schaffen und ganz konkrete Maßnahmen ergriffen werden, damit Zuwanderung so gestaltet wird, dass sie nicht zur Last wird, dann kann fehlende Handlungsbereitschaft zum Verstärker einer anthropologisch angelegten Angst vor dem Fremden werden.

Warum ist die AfD dann ausgerechnet in Bundesländern erfolgreich, wo der Ausländeranteil besonders niedrig ist?

Gauck: So wie es Antisemitismus ohne Juden gibt, gibt es auch Fremdenfeindschaft ohne Fremde. Wenn Menschen etwas Fremdes begegnet, ist zunächst Vorsicht angesagt. Fremdheit zu empfinden ist menschlich normal, das ist noch nichts Böses. Es kommt darauf an, wie wir mit der Fremdheit umgehen.

Wie sollten wir mit Fremdheit umgehen?

Gauck: Wenn ich in Freiberg, Görlitz, Chemnitz oder an anderen Orten mit relativ wenigen Fremden spreche, erzähle ich den Menschen gerne von Orten, an denen besonders viele Fremde leben. Zum Beispiel vom Großraum Stuttgart oder Köln.

Warum?

Gauck: In Köln leben über 160 verschiedene Völkerschaften, aber die kölnischen Menschen bleiben einfach kölsch. Sie haben ihre Mundart, die ich nicht wirklich verstehe. Sie haben BAP und die Höhner und ihren Karneval, den ich als Norddeutscher überhaupt nicht brauche, sie haben ihre Fronleichnamsprozession und sie finden das alles wunderbar. Die angestammten Kölner siedeln nicht aus, sondern bleiben in ihrer Stadt beheimatet – trotz der anderen. Köln ist ihnen nicht eine fremde Stadt, sondern es ist ihr Köln. Aber wenn ich darüber an einem Ort weit im Osten spreche, dann spreche ich über etwas, was außerhalb der Erfahrungswelt der Menschen dort ist, und Erfahrungen kann man schlecht lehren.

Als Bundespräsident sagten Sie zum Thema Einwanderung: „Unser Herz ist weit, aber unsere Möglichkeiten sind endlich.“ Eines der Kapitel in „Erschütterungen“ trägt den Namen „Wie viel Einwanderung verträgt eine Demokratie?“. Werben Sie darin für eine homogene deutsche Gesellschaft?

Gauck: Nein. Ich werbe für eine Gesellschaft der Vielfalt, aber nicht für eine ungeregelte Vielfalt, denn die bewirkt Verunsicherung und daraus folgt Angst. Ich möchte auch keine Vielfalt, in der wesentliche Dinge nicht geregelt sind. Wenn etwa die Rechtsordnung von zugewanderten Menschen gebrochen wird oder wesentliche Leitlinien unseres menschlichen Miteinanders missachtet werden und niemand darauf reagiert, ist das problematisch.

Was meinen Sie konkret?

Gauck: Wenn die Rechte weiblicher Menschen in bestimmten türkischen und arabischen Familien nicht gewahrt werden, es zu Zwangsverheiratungen oder Gewalt gegen Frauen kommt, die einen westlichen Lebensstil gewählt haben, oder in anderen Milieus die Genitalverstümmelung von Mädchen organisiert wird, weil die jeweilige Tradition es gebietet, dann werden diese Traditionen zum Problem. Da kann man nicht zuschauen und sagen: „Andersartigkeit und Vielfalt sind ein Gewinn.“ Dann ist Andersartigkeit eine Belastung und muss besprochen werden. Wir dürfen nicht akzeptieren, dass Normen unseres Grundgesetzes infrage gestellt werden. Aber das scheinen im Moment ja auch alle verstanden zu haben. Deshalb sehen wir eine deutliche Aktivierung des Staates bei der Kriminalitätsbekämpfung.

Fordern Sie eine konsequente Abschiebung von ausländischen Straftätern?

Gauck: Selbstverständlich bin ich für die Abschiebung krimineller Ausländer. Auch der Bundeskanzler sagt, er wolle Straftäter konsequenter abschieben. Als politischer Beobachter weiß ich um die Herausforderungen bei der Umsetzung dieses Versprechens. Aber immerhin hören wir die entschlossene Botschaft: „Leute, wir haben verstanden. Was nicht geordnet wird, schafft Probleme.“ Und deshalb brauchen wir zweierlei: zum einen die Erinnerung daran, was wir in diesem Land ohne Zuwanderung wären, ein wirtschaftlicher Niedergang wäre unausweichlich. Zum anderen müssen wir unsere Haltung zu ungeordneter Zuwanderung ändern und entschlossener agieren. Wir sind nicht menschenfeindlich, aber wir müssen die Akzeptanz für unsere Zuwanderungspolitik erhöhen.

Wie hoch ist die Mauer in den Köpfen fast 35 Jahre nach dem Fall der Mauer noch?

Gauck: Es gibt die Mauer in den Köpfen noch. Im Osten wie im Westen. Als westliches Modell, weil man den Osten einfach nicht wahr- oder ernst nimmt. Im Osten existiert die Mauer vor allem in den Köpfen derer, die das Gefühl haben, zu kurz gekommen zu sein, und sich eingeigelt haben in eine Haltung der trotzigen Abwehr und der Verdächtigung des Westens als unsolidarisch oder gar feindlich. Auch wenn wir jetzt gerade wieder so eine Welle haben, in der die Mauer in den Köpfen etwas höher zu werden scheint, wird sie à la longue verschwinden. Mentalitäten wandeln sich langsam.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat gerade vor der Uno-Generalversammlung für seinen Siegesplan geworben. Um sich gegen Russland zu wehren, wollen die Ukrainer auch militärische Ziele mit Mittelstreckenwaffen auf russischem Gebiet beschießen dürfen. Was halten Sie von der Forderung?

Gauck: Sehr viel. Denn ich bin ein alter Deutscher und erinnere mich an einen deutschen Diktator, der zunächst das Glück hatte, dass man seinen aggressiven Absichten wenig Widerstand entgegensetzte. Das hat dieser Diktator gemerkt und ist am 1. September 1939 unter einem Vorwand in Polen einmarschiert. Weil er es konnte, weil man ihn ließ!

Was bedeutet das für die Ukraine?

Gauck: Ich habe schon als Bundespräsident darauf hingewiesen, dass man den Appetit eines Aggressors anregt, wenn man ihm nichts entgegenstellt. Zögern und Zuwarten bei imperialer Aggression sind schwere Fehler. Es offenbart erhebliche moralische Defizite, einem überfallenen Opfer nicht beizustehen. Und es ist ein politischer Fehler, wenn man so tut, als würde man durch eine Politik des freundlichen Gewährenlassens oder der vorgetragenen eigenen Friedfertigkeit den Aggressor besänftigen können.

Also sollte die Ukraine auch militärische Ziele in Russland angreifen dürfen?

Gauck: Selbstverständlich darf die Ukraine militärische Ziele in Russland angreifen. Wir haben gesehen, dass es möglich ist, große Munitionsdepots zu zerstören. Das ist effektive Verteidigung. Dabei will die Ukraine keinen Zentimeter von Russland besitzen. Sie ist lediglich in russisches Gebiet einmarschiert, um bei den irgendwann anstehenden Verhandlungen über die Herausgabe von ukrainischen, von den Russen eroberten Territorien ein Faustpfand zu haben. In Richtung der Anhänger von Frau Wagenknecht sage ich: Die Aggressivität geht nicht von der Ukraine aus. Sie befindet sich in einem Abwehrkampf.

Sollte Deutschland Taurus-Marschflugkörper liefern?

Gauck: Ich habe mich dazu mit militärischen Fachleuten ausgetauscht und spreche mich für die Lieferung der Taurus-Marschflugkörper aus. Ich halte es für richtig, die zur Verfügung stehenden Mittel auszuschöpfen und so zu helfen, dass die Ukraine in eine Verhandlungsposition auf Augenhöhe kommt. Kanzler Scholz hat mehrfach gesagt, dass er keinen putinschen Siegfrieden will. Das bedeutet aus meiner Sicht, dass wir mehr tun müssen.

Welche Haltung sollte Deutschland zum Krieg in der Ukraine einnehmen?

Gauck: Wir müssen uns die Frage stellen: Wollen wir lieb, aber hilflos sein? Das will ich nicht hinnehmen. Deshalb melde ich mich zu Wort und trete gegen eine solche defätistische Haltung ein. Wir dürfen nicht preisgeben, was unter Blut und Schweiß und Tränen errichtet worden ist – ein Bereich, in dem die Herrschaft des Rechtes abgesichert ist. Dieses Deutschland hat es geschafft, aus dem allertiefsten Fall heraus ein Hort von Menschenrechten, Bürgerrecht und Sicherheit zu sein. Dies gilt es unbedingt zu sichern.

Hat es in Deutschland die von Bundeskanzler Scholz beschworene Zeitenwende gegeben?

Gauck: Es gab eine überaus starke und so von mir nicht erwartete Rede eines sozialdemokratischen Regierungschefs. Aber auf die starken Worte folgte erst mal eine lang andauernde Nachdenkphase, während der wir gerne bereit waren, gute Worte, Helme und auch ein wenig militärisches Gerät zu schicken. Schritt für Schritt hat man sich dann daran gewöhnt, die selbst gezogenen roten Linien infrage zu stellen und mehr zu liefern. Irgendwann hat man gemerkt: Vielleicht brauchen sie nicht nur Helme, sondern auch Panzer.

Also gab es die Zeitenwende (noch) nicht?

Gauck: Partiell, denn in der Mentalität der Menschen gibt es mittlerweile eine größere Bereitschaft, die Verteidigung wieder ernst zu nehmen. Es gibt eine größere Bereitschaft, die Mittelzuweisung für die Bundeswehr zu akzeptieren. Auch die Waffenlieferungen an die Ukraine werden mehrheitlich befürwortet. Man spürt: Wir dürfen uns in diesem Krieg nicht neutral verhalten. Insofern sind wir auf dem Weg, die Zeitenwende stärker zu vollziehen.

Wie wird der Krieg enden?

Gauck: Der russische Aggressor könnte den Krieg jederzeit beenden. Aber Putin hat daran derzeit ebenso wenig Interesse wie an Verhandlungen. Ich bin realistisch genug, um mir vorzustellen, dass die ukrainische Regierung nicht alle ihre Ziele erreichen wird. Aber ich weigere mich, der Ukraine Vorschläge zu machen. Das würde ich als arrogant empfinden. Die ukrainische Regierung und das ukrainische Volk müssen selbst definieren, wann ihre Kräfte so zur Neige gehen, dass sie von der Erreichung all ihrer Ziele absehen.