Washington. Mit 100 Jahren ist der ehemalige US-Präsident Carter gestorben. Im Amt war er wenig erfolgreich. Sein Ansehen war dagegen herausragend.

Es sind rare Momente in Amerika, wenn ein Politiker, ganz gleich, ob Demokrat oder Republikaner, inflationär als „gute Seele“, „sehr feiner Mensch“, „Ausbund an Mitmenschlichkeit“ und „Vorbild für uns alle“ beschrieben wird. 

Für solche Vokabeln ist im vergifteten nationalen Selbstgespräch, in dem Andersdenkenden reflexartig böseste Absichten unterstellt werden, normalerweise kein Platz. Bei Jimmy Carter macht das Land gerade eine Ausnahme. 

Als am 18. Februar bekannt wurde, dass sich der 39. Präsident nach vielen Krankheiten, Operationen und Spital-Aufenthalten aus den Händen der Groß-Medizin, die den Krebs nicht besiegen konnte, in seinem bescheidenen Zuhause in palliative Hospiz-Hilfe begeben hat, rollte eine Welle der Anteilnahme ins idyllische Plains im Bundesstaat Georgia, wo Carter am 1. Oktober 1924 geboren wurde. 

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Jimmy Carter: Der oft unterschätzte Präsident

Am Sonntag (29. Dezember 2024) ist Jimmy Carter im Alter von 100 Jahren im Kreise seiner Familie gestorben. Den Angaben seiner Stiftung zufolge starb er an seinem Geburtsort Plains im Kreise seiner Familie. Er hinterlässt vier Kinder, 11 Enkelkinder und 14 Urenkel.

„Mein Vater war ein Held – nicht nur für mich, sondern für alle, die an Frieden, Menschenrechte und selbstlose Liebe glauben“, zitierte die Stiftung Carters Sohn Chip. Geplant seien öffentliche Trauerfeiern in Atlanta und der US-Hauptstadt Washington. Das Empire State Building in New York wurde zu Ehren Carters in Rot, Weiß und Blau erleuchtet.

Mit ehrlicher Anteilnahme für Carter und seine im November 2023 mit 96 Jahren verstorbene Gattin Rosalynn zollte das Land parteiübergreifend einem Mann Respekt, der in seinem Leben oft unterschätzt wurde.

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Carter trat Erbe von Nixon und Vietnam an

Wie kam Amerika überhaupt zu ihm? Nach dem Albtraum von Vietnam und Richard Nixons Machtwahn im Watergate-Skandal suchte die traumatisierte Nation nach Ehrlichkeit, Bescheidenheit, Bodenständigkeit an der Spitze. Und nach Integrität.

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Präsident Carter unterzeichnet 1979 eine Anordnung, iranische Mittel in US-Banken einzufrieren. Seine Amtszeit wurde von außenpolitischen Konflikten wie dem sowjetische Einmarsch in Afghanistan oder der iranischen Revolution überschattet. © AFP | -

Kaum jemand verkörperte diese Qualitäten 1977 authentischer als der abseits des Washingtoner Klüngels groß gewordene Provinzpolitiker, der es in Georgia mit Charme und Fleiß zum Gouverneur brachte. Carter, Unterseebootfahrer und Nuklear-Ingenieur mit Abschluss an der renommierten Militär-Akademie in Annapolis/Maryland, bezwang den Republikaner Gerald Ford. 

Aber schon kurz danach ging es mit seiner Präsidentschaft bergab. Zu zaudernd, zu pedantisch, zu ehrpusselig und am Ende auch zu glücklos agierte der in eigenen Reihen oft als Hinterwäldler belächelte Demokrat, der seine erste Fernseh-Ansprache an die Nation in einer Strickjacke hielt. 

Politischer Selbstmord: Kritik am amerikanischen Konsum

Dass er 1979 auf dem Höhepunkt der Wirtschafts-Malaise mit hohen Öl-Preisen und galoppierender Inflation etwas sehr Unamerikanisches tat und seinem auf Überfluss trainierten Volk Verzicht predigte, ist unvergessen: „In einer Nation, die stolz war auf harte Arbeit, starke Familien, eng zusammenhaltende Gemeinschaften und den Glauben an Gott”, sagte Carter, „neigen nun zu viele von uns dazu, Genusssucht und Konsum anzubeten.” 

Mehr Sätze braucht der Man mit dem ewigen Zahnpasta-Lächeln nicht zum politischen Selbstmord. Aber er tat es aus tiefster Überzeugung. „Sein wichtigster Charakterzug war, dass er selbst hartnäckige Probleme unabhängig von der Frage anging, welchen politischen Preis er dafür zahlen musste”, sagte später sein enger Berater Stuart Eizenstadt.

Zu den innenpolitischen Pleiten kamen außenpolitische Nadelstiche, die das Bild des Versagers zementierten. Die Sowjetunion marschierte in Afghanistan ein. Und der Iran nahm die US-Botschaft in Teheran in Geiselhaft. Eine Befreiungsaktion misslang kläglich. Erst unter Nachfolger Ronald Reagan wurde die Krise gelöst. Nach 444 Tagen Tagen der Demütigung.

Jimmy Carter vermittelte Frieden zwischen Israel und Ägypten:

Entschieden zu lange, um Carters Pluspunkte jedenfalls damals ausreichend zu würdigen. Er war es, der die Beziehungen zu China normalisierte und nie amerikanische Soldaten in einen Krieg schickte, mit der Sowjetunion aber einen großen Abrüstungsvertrag unterzeichnete. 

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Jimmy Carter zusammen mit dem damaligen kubanischen Präsidenten Fidel Castro 2002: Carter setzte sich nach einer Amtszeit für internationale Verständigung ein. © AFP | ADALBERTO ROQUE

Er war es, der 1978 auf dem US-Präsidentenlandsitz Camp David den historischen Friedensschluss zwischen Israel (Menachem Begin) und Ägypten (Anwar El Sadat) im wahrsten Sinne des Wortes herbeibetete.

Auch darum wurde der tief gläubige Sohn eines Kaufmanns und einer Krankenschwester, der später den Einsatz für Menschenrechte und die Dritte Welt zu seinem Lebensinhalt gemacht hat und 2002 dafür den Friedensnobelpreis erhielt, in den vergangenen Jahren mehr denn je wertgeschätzt: als Beispiel für Dezenz, Standhaftigkeit und Moral. In spätestens seit Donald Trump unmoralisch und verkommen gewordenen Zeiten.

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Carter war begeisterter Handwerker

Als James Earl Carter 1981 nach der Niederlage gegen Reagan in Washington die Koffer packte, überreichte ihm sein Stab als Abschiedsgeschenk einen Werkzeugkasten mit Hammer, Hobel und Holzleim. Carter tischlerte damit auf der heimischen Erdnuss-Farm ein neues Ehebett. Und so manche Wiege für die Enkelkinder.  

Später stellte er seine handwerklichen Fähigkeiten und seinen Gemeinsinn in den Dienst von „Habitat for Humanity“. Die Hilfs-Organisation zimmert weltweit sozial Schwachen ein Dach über den Kopf. Seit 1984 nahm sich Carter dafür noch bis vor Kurzem mit seiner Frau jedes Jahr eine Woche Zeit. Unvergessen sind Fotos, die den sichtlich malträtierten Carter kurz nach einem Sturz in der heimischen Wohnung mit Schutzbrille und Helm auf einer Baustelle zeigten. Pflichterfüllung ging ihm über alles. 

Seine demokratische Politik war der Zeit voraus

Dass Jimmy Carter zuletzt nicht nur bei den Demokraten eine Renaissance erlebte und etwa vor der Wahl 2020 von Präsidentschaftskandidaten/-innen um Rat gebeten wurden, liegt an den Zeitläuften. 

Soziale Ungleichheit, die Rechte von gesellschaftlichen Minderheiten, der Ressourcen-Raubbau an Mutter Erde, Demokratie und Wahlrecht, Friedens-Diplomatie statt Raketen-Rhetorik: All das, was die neuen Progressiven links der Mitte forcieren und von dem sich der amtierende Präsident Joe Biden bei seinem „Green New Deal“ einiges abgeschaut hat, das waren schon vor 40 Jahren seine Themen.

Jimmy Carter: Der bescheidenste der Ex-Präsidenten

Jimmy Carter war es, der seinen Landsleuten den unstillbaren Durst auf das Öl der Scheichs abgewöhnen wollte und Solarzellen aufs Dach des Weißen Hauses montieren ließ. Carter war es, der mit seinem „Carter Zentrum” in Atlanta eine Art Privat-Außenministerium eröffnete und sich neben der Konfliktvermittlung in Haiti, Bosnien, Nordkorea und Kuba auch um die Ausrottung von Infektionskrankheiten kümmerte, wie sie der Guineawurm auslöst.

Viele Amerikaner können sich immer noch hinter einem alten Satz des Folksängers Tom Paxton versammeln: „Jimmy Carter war kein großer Präsident, aber er ist ein großartiger Ex-Präsident.” 

Ein Grund unter vielen. Carter strebte nie nach Reichtum. Er zog nach der Zeit im Weißen Haus zurück in sein kleines Rancher-Haus in Plains, das mit knapp 170 000 Dollar weniger wert ist als die gepanzerten Fahrzeuge des Secret Service, der Carter seit über 40 Jahren rund um die Uhr beschützte.