Chicago. Kamala, die Erste? Die Präsidentschaftskandidatin meistert ihre bislang größte Feuerprobe mit Charme, Entschlossenheit und ihrem Song.

Als Kamala Harris nach 40 Minuten ausgeredet hat und die blau-weiß-roten Luftballon-Hundertschaften von der Hallendecke im „United Center” von Chicago zu den Tonband-Klängen von Beyoncés Freiheits-Hymne „Freedom” niederschweben, verdrückt Angie Gialloreto Tränen der Freude. Die aus Pennsylvania stammende und mit 95 Jahren älteste Delegierte des Demokraten-Parteitags hat in ihrem Leben schon viele politische Krönungsmessen erlebt. „Aber das hier, das ist in jeder Beziehung einmalig.” 

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Zum ersten Mal hat Amerika offiziell eine schwarze Frau für das höchste Staatsamt nominiert. Kamala Harris, die amtierende Vize-Präsidentin an der Seite von Joe Biden, kann am 5. November im Wettstreit mit dem Republikaner Donald Trump die erste Präsidentin und damit der erste weibliche Commander-in-Chief in der Geschichte des Landes werden. „Das muss man erst mal verarbeiten”, sagt Gialloreto und strahlt vor Freude.

Der Star des Abends, die 59-Jährige Madame Vice-President, will an ihrem zehnten Hochzeitstag keine Zeit verstreichen lassen. Harris kommt 15 Minuten vor dem offiziellen Zeitplan auf die Bühne. Anders als ein Großteil der Frauen im Publikum, die sich als Hommage an die Suffragetten, die Amerika vor über 100 Jahren das Frauen-Wahlrecht erkämpften, ganz in Weiß gekleidet haben, trägt sie einen dunklen Hosenanzug.

US-Wahl 2024: Kamala Harris warnt in Antrittsrede vor Trump

Tosender Beifall setzt ein, den Harris im freundlich-resoluten Stil der Staatsanwältin, die sie lange war, nach Dutzenden „Guten Abend”- und „Danke”-Bekundungen mit einer kurzen Ansage abbindet: „Lasst uns zur Sache kommen.” Die Sache, das ist „eine der wichtigsten Wahlen im Leben unserer Nation”, wie es Harris formuliert. Am 5. November, sagt sie, „hat unsere Nation eine kostbare, flüchtige Gelegenheit, die Verbitterung, den Zynismus und die spaltenden Kämpfe der Vergangenheit hinter sich zu lassen.”

Die Zuschauer applaudieren lautstark bei Harris‘ Antrittsrede auf dem Parteitag der Demokraten in Chicago.
Die Zuschauer applaudieren lautstark bei Harris‘ Antrittsrede auf dem Parteitag der Demokraten in Chicago. © Getty Images via AFP | WIN MCNAMEE

Es gebe die Chance, „einen neuen Weg nach vorn zu finden. Nicht als Mitglieder einer bestimmten Partei oder Fraktion, sondern als Amerikaner.” Mit Blick auf ihren Widersacher Donald Trump, vor dessen Wiederwahl sie warnt, auch wenn er für sie „kein ernsthafter Mann” ist, sagt sie, dass die Konsequenzen eines Sieges „extrem ernst” wären. „Bedenken Sie die Macht, die er haben wird – insbesondere nachdem der Oberste Gerichtshof gerade entschieden hat, dass er vor Strafverfolgung geschützt ist.“ 

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Trotz Euphorie: Großteil der Amerikaner kennt Harris nicht

Minutiös listet sie das Sünden-Register des Opponenten auf: vom „bewaffneten Mob”, den er im Januar 2021 zum Kapitol in Washington geschickt habe, um Bidens Wahlsieg zu hintertreiben, bis zu den auf radikalen Staatsumbau zielenden Maßnahmen, die unter dem Namen „Projekt 2025” firmieren. Harris: „Stellt euch Trump ohne Leitplanken vor!”.

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Dass es auch andere Meinungen dazu gibt, ist ihr klar: „Ich weiß, dass heute Abend Menschen mit unterschiedlichen Ansichten zuschauen”, ruft Harris mit einem Lächeln, „und ich möchte, dass Ihr wisst: Ich verspreche, Präsidentin aller Amerikaner zu sein.” Eine Präsidentin, „die führt – und zuhört. Die realistisch ist. Praktisch. Und gesunden Menschenverstand hat. Und die immer für das amerikanische Volk kämpft. Vom Gericht bis zum Weißen Haus – das ist mein Lebenswerk.“

Ein Leben, das Harris, mit intimen Einblicken durchzogen, von ihrer Kindheit bis ins Jetzt anschaulich nacherzählt. Weil viele Amerikaner, laut Umfragen über 60 Prozent, sie nicht wirklich kennen. Kamala Harris wurde 1964 als Tochter von Immigranten in Berkeley/Kalifornien geboren. Die Mutter, Shyamala Gopalan, kam zum Studium aus Indien, sie spezialisierte sich später auf Brustkrebsforschung. Vater Donald war in Jamaika aufgewachsen und studierte Wirtschaftswissenschaften. 

Aus traurigem Anlass: Warum Harris Anwältin werden wollte

Die Eltern trennten sich, da war Kamala sieben und ihre Schwester Maya vier Jahre alt. Man lebte ein Mittelschichtsleben, musste mit dem Geld rechnen. Von der Mutter lernte sie, nicht zu klagen, sondern aktiv zu werden, um zum Ziel zu kommen. Tanten und Onkel halfen der alleinerziehenden Mutter dabei, dass die Töchter „in einem schönen Arbeiterviertel mit Feuerwehrleuten, Krankenschwestern und Bauarbeitern“ Werte wie „Gemeinschaft, Glauben, Freundlichkeit und Respekt” verinnerlichen.

Als eine Freundin Hilfe sucht, weil sie vom Stiefvater missbraucht wurde, wächst in Harris der Wunsch, Anwältin zu werden. „Jeder hat ein Recht auf Sicherheit, Würde und Gerechtigkeit”, sagt sie und zitiert ihren Wahlspruch aus jeder Gerichtsverhandlung: „Kamala Harris, für das Volk”. 

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In ihrer Antrittsrede legt Harris wie erwartet kein Regierungsprogramm vor. Sie redet eher allgemein davon, die Alltagssorgen der Menschen ernst zu nehmen, den Häuser-Mangel zu beseitigen, bei Dauerbrenner-Themen wie Waffengewalt, Klimaschutz und Wahlrecht Lösungen mit „gesundem Menschenverstand” zu befördern. Ihre Leitlinie: „Die Republikaner wollten Amerika in die Vergangenheit lotsen. Aber: „Wir gehen nicht zurück.”

Harris: USA soll „tödlichste Militärmacht der Welt bleiben“

Ausführlich schärft sie den Kontrast zwischen sich und Trump bei der Abtreibung. Die Republikaner hätten den „Verstand verloren”, wenn sie Frauen bei ihren intimsten Entscheidungen in die Quere kommen wollen, sagte sie unter lautstarkem Applaus. Auch dass Trump eine längst überparteilich unterschriftsreif gewesene Reform der Einwanderungsgesetze verhindert habe, lässt sie nicht unerwähnt. Unerwartet, weil der Wahlkampf bisher rein innenpolitisch getrieben war, setzt sie aber auch kleine Akzente in der Außenpolitik.

NameKamala Harris
Geburtsdatum20. Oktober 1964
AmtVize-Präsidentin der USA
ParteiDemokraten
Familienstandverheiratet, zwei Stiefkinder

Unter ihr werde Amerika die stärkste, tödlichste Militärmacht der Welt” bleiben und seine „globale Führungsrolle nicht aufgeben, sondern stärken”. Anders als Trump stehe sie fest an der Seite der Ukraine und der Nato. Israel werde in ihr stets eine Freundin finden, die das Selbstverteidigungsrecht des jüdischen Staates beschützt. Gleichwohl nannte sie das Leiden der Zivilbevölkerung in Gaza „herzzerreißend” und betonte, wie wichtig es sei, den Krieg umgehend zu beenden und die Geiseln freizubekommen.

Kamala Harris präsentiert sich in Chicago als pragmatische Mutter der Nation, die die lange Phase der Spaltung und Verfeindung im Land überwinden will. „Wir haben viel mehr gemeinsam, als das Dinge uns trennen. Niemand von uns muss scheitern, damit andere Erfolg haben.” Ihr Kompass bei alledem sei klar: „Ich weiß, wo ich stehe“, sagt sie. „Und ich weiß, wo Amerika im andauernden Kampf zwischen Demokratie und Tyrannei hingehört.”