Erfurt. Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow fordert Nichtangriffspakt mit Russland – und erinnert Sahra Wagenknecht an ihre Vergangenheit.

Im September wählen Thüringen, Sachsen und Brandenburg einen neuen Landtag, und diese Wahlen könnten – glaubt man den Umfragen – zum Triumphzug für die AfD werden. Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke), der eine rot-rot-grüne Minderheitsregierung führt, sagt im Interview mit unserer Redaktion, ob er noch mit Sahra Wagenknecht spricht.

Deutschlands bekanntester Rechtsextremist, Björn Höcke, will Sie aus der Staatskanzlei drängen – und in den Umfragen liegt die AfD tatsächlich vorn. Wie erklären Sie das Menschen, die gerade Urlaub in Thüringen machen?

Bodo Ramelow: Auf den Plakaten sieht sich Herr Höcke ja schon als Ministerpräsident. Aber ich bin der Ministerpräsident, ich bin hier und kämpfe dafür, die mehr als 70 Prozent zu stärken, die in Thüringen die AfD nicht wählen. Wir wissen, wie gefährlich es wäre, wenn die AfD mehr als ein Drittel der Sitze im Landtag erringt. Sie sagt ja auch ganz offen, dass es ihr nur darum geht, damit sie alle anderen Parteien vor sich herjagen kann. 

Herjagen? 

Ramelow: Es geht darum, die demokratischen Parteien in eine Erpressungssituation zu bringen. Denken Sie nur an Verfassungsänderungen oder die Berufung von Verfassungsrichtern, für die man eine Zweidrittelmehrheit im Landtag braucht. Die AfD könnte mit einer Blockade die Demokratie lähmen.

Warum laufen so viele Thüringerinnen und Thüringer einem Mann hinterher, der offen nationalsozialistisches Gedankengut vertritt?

Ramelow: Ich beteilige mich nicht an der Beschimpfung von Wählerinnen und Wählern der AfD. Das sind nicht alles Rechtsextremisten. Aber ich sage auch: Wer Herrn Höcke nicht will, darf die AfD nicht wählen. Viele wählen sie, um Aufmerksamkeit zu bekommen oder aus Protest. 

Protestieren die Wähler gegen Sie? Bei der vergangenen Landtagswahl ist die Linke mit 31 Prozent stärkste Kraft geworden, jetzt liegt sie mit 13 Prozent abgeschlagen auf Platz vier. 

Ramelow: Schauen wir das mal genau an: In Sachsen und Brandenburg muss die Linke gerade um den Wiedereinzug in den Landtag bangen. Der Weggang von Wagenknecht hat der Linken insgesamt einen Riesenverlust beschert. Dass wir in Thüringen derzeit deutlich stärker sind als in allen anderen Ländern, scheint mir doch ein Ramelow-Effekt zu sein.

Wie groß ist Ihre Wut auf Sahra Wagenknecht? Sprechen Sie noch mit ihr?

Ramelow: Warum sollte ich jetzt mit Sahra Wagenknecht etwas besprechen? Die Spitzenkandidatin des BSW in Thüringen ist Katja Wolf, die ich auf Wahlkampfpodien treffe und mit der ich mich austausche. Ich werde keine demokratische Partei bekämpfen, und auch das BSW zählt zum demokratischen Spektrum.

Wagenknecht will mögliche Regierungsgespräche auf Landesebene an die Friedensfrage in der Ukraine knüpfen. Machen Sie das mit? 

Ramelow: Diese Frage können Sie gerne mal an den CDU-Spitzenkandidaten richten. Mario Voigt will ja offenbar mit dem BSW koalieren, aber nicht mit der Linken wegen ihrer SED-Vergangenheit. Nur mal so: Frau Wagenknecht war in der SED – ich nicht. Aber was Putins Aggression in der Ukraine angeht, da rate ich sehr dazu, weniger über Waffenlieferungen zu reden und mehr über Wege zum Frieden. 

Was ist falsch an Waffenlieferungen?

Ramelow: Krieg ist immer mörderisch. Aber diesen Krieg hat Putin begonnen, und wer angegriffen wird, muss sich verteidigen können. Deshalb ist es richtig, die Ukraine zu unterstützen. Präsident Selenskyj hat jetzt zum ersten Mal gesagt, Gebietsabtretungen kann es nur mit einer Volksabstimmung geben. Das ist ein interessanter Satz…

 … weil Sie der Meinung sind, dass die Ukraine Gebiete an Russland abtreten soll? 

Ramelow: Nein, weil über diese Frage die Ukraine nur selbst entscheiden kann. Mir ist wichtig, all die Fragen in einen größeren Rahmen zu stellen. Schauen Sie: Moldau und Georgien sollen in die EU aufgenommen werden, obwohl es in beiden Staaten ungeklärte territoriale Konflikte gibt. In der moldauischen Region Transnistrien lagern sämtliche Waffen, die die Sowjetarmee in der DDR besessen hat. Das sind schwelende Konflikte, die Putin jederzeit hochziehen kann. Die Nato baut eine Brigade in Litauen auf, die von Thüringer Soldaten geführt wird. Und in der Duma in Russland liegt ein Antrag, die Souveränität Litauens aufzuheben. Wenn der behandelt wird, kann es ganz schnell gehen, und wir sind mitten im Krieg. 

Worauf wollen Sie hinaus? 

Ramelow: Wir brauchen eine europäische Friedensordnung, die Russland einbezieht. Alle Teilnehmerstaaten müssen einen Nichtangriffspakt schließen und eine Verteidigungsgemeinschaft bilden, die sich darauf konzentriert, Konflikte auf dem europäischen Kontinent zu lösen. 

Und die Nato?

Ramelow: Ich rede nicht gegen die Nato, sondern für eine Neuordnung der europäischen Verteidigung. Deutschland braucht eine Armee zur Landesverteidigung, die ihren Namen verdient. Daher bin ich strikt dafür, die Bundeswehr gut auszustatten. Aber wir müssen Europa endlich als Ganzes denken, und da gehört Russland auch dazu. 

Putins Russland als Teil einer europäischen Friedensordnung? Diese Vorstellung ist bestenfalls blauäugig. 

Ramelow: Natürlich geht das nicht mit einer Diktatur, einem Unterdrückungsapparat, und Putin ist auch kein Vertreter von Freiheit und Frieden. Aber wir müssen das Land im Blick behalten – und diejenigen stärken, die Veränderung in Russland wollen. 

Sehen Sie eine kraftvolle russische Opposition?

Ramelow: Der andauernde Krieg, aber auch die massive Repression im Land können Kräfte in der russischen Gesellschaft freisetzen. Darauf sollte man vertrauen. Das sollten wir einfach nicht unterschätzen. 

Wenn Sie die AfD unter 30 Prozent drücken wollen – gelingt das mit dieser Haltung zu Russland? Oder eher mit einer härteren Migrationspolitik?

Ramelow: Mein Ansatz ist eine bessere Zuwanderungspolitik. Wir dürfen Geflüchtete nicht vom Arbeitsmarkt fernhalten. Jeder, der kommt, soll von seiner Hände Arbeit leben können. Daneben kann das Asylverfahren laufen, das aber nach drei Monaten abgeschlossen sein muss. Wer eine Arbeit aufnehmen kann, lernt die Sprache, kann sich eine Wohnung suchen, hat die Chance, sich zu integrieren. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter: Jeder, der sich hier selbst ernähren kann, soll auch einen Aufenthalt bekommen. Dafür könnten wir gezielt werben.

Wie stellen Sie sich das vor? 

Ramelow: Wir brauchen Abkommen mit Herkunftsländern wie den Maghreb-Staaten oder Moldau, Georgien, Armenien. Wir müssen  legale Zugänge schaffen für Arbeitskräfte, die wir in Deutschland ja brauchen. Thüringen macht das schon mit Vietnam. Dort haben wir eine Firma damit beauftragt, Menschen anzuwerben, die unsere heimische Wirtschaft sucht. Das kann ich mir auch in Marokko oder Algerien vorstellen. Und wenn wir rund um das Mittelmeer legale Zugänge schaffen, wird nicht allein das Wort Asyl die Tür nach Deutschland öffnen. 

Was bedeutet das für politisch Verfolgte und das Grundrecht auf Asyl?

Ramelow: Das gilt, ohne Frage. Aber die Unterscheidung suggeriert doch gleich die Gegenfrage: Wer politisch verfolgt ist, kann der vielleicht nicht arbeiten? Der Schwule aus dem Gazastreifen, die Jesidin aus Syrien – die meisten Menschen könnten, wenn man sie ließe, sofort legalen Zugang zum Arbeitsmarkt finden. 

Wollen die denn in den deutschen Osten? 

Ramelow: Wir müssen aufpassen, dass wir uns selber nicht schlecht reden. Es gibt fremdenfeindliche Ausbrüche und Übergriffe, das will ich nicht bestreiten. Aber wir können das Problem lösen. Ich bin stolz auf die Unternehmer, die an unserem Vietnam-Projekt beteiligt sind. Die sagen jetzt: Hände weg von unserem Auszubildenden. Das verändert das Klima im Betrieb und im Dorf.

Herr Ramelow, Hand aufs Herz: Wie schätzen Sie Ihre Chancen ein, an Weihnachten noch Ministerpräsident von Thüringen zu sein?

Ramelow: Niemand kann das Wahlergebnis voraussagen und was sich daraus ergibt. Wie lange ich danach geschäftsführend im Amt bin, wird man sehen. Das kann schon bis zum Jahresende der Fall sein. 

Haben Sie Pläne für die Zeit danach?

Ramelow: In jedem Fall habe ich meiner Frau eine Urlaubsreise nach Vietnam versprochen und dieses Versprechen möchte ich einlösen. Aber dafür muss ich nicht im Ruhestand sein. Das geht auch als Ministerpräsident.