Essen. Seit Mai läuft der Streik an den Unikliniken. In Essen sind rund 1700 OPs verschoben worden - auch die Lehre leidet, sagt Uniklinik-Chef Werner.

Seit Anfang Mai dauert der unbefristete Streik an den Universitätskliniken in NRW an. Beschäftigte fordern einen „Tarifvertrag Entlastung“, über den sie sich bessere Personalschlüssel, einen Ausgleich für Überlastung und eine bessere Betreuung von Auszubildenden erhoffen. Im Gespräch mit dieser Redaktion erklärt Jochen A. Werner, Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender des Universitätsklinikums Essen, warum er den Ruf nach Entlastung richtig findet und welche Probleme er dennoch dabei sieht.

Prof. Werner, Beschäftigte der Uniklinik Essen streiken in der achten Woche an der Seite ihrer Kolleginnen und Kollegen aus ganz NRW, weil sie ihrem Job nicht mehr gerecht werden können. Sie fordern mehr Personal. Was spricht dagegen?

Jochen A. Werner: Nichts. Seit über 30 Jahren beklagen wir überall nachlesbar Engpässe gerade in der Pflege, das will keiner wegdiskutieren. 2018 hatten wir in Essen und am Universitätsklinikum Düsseldorf eine ähnliche Auseinandersetzung. Wir haben seitdem bereits 140 Pflegekräfte und 40 Kräfte in weiteren Bereichen aufgebaut.

Wenn das Verständnis so groß ist, müssten die Verhandlungen über den von Verdi geforderten „Tarifvertrag Entlastung“ doch längst beendet sein.

Verhandlungen über einen Tarifvertrag sind viel komplexer als eine Einsicht zu haben. Und in diesem Fall sind die Umstände besonders schwierig. Tarifverträge dürfen die Unikliniken bislang nicht abschließen. Damit wir es tun können, müssen wir aus dem Arbeitgeberverband des Landes austreten und das Hochschulgesetz muss geändert werden. Beides ist mit Fristen verbunden. Hier gibt es überhaupt keine Verzögerungstaktik. Wir verweigern uns nicht.

Vorstandsvorsitzender: Das Mehr an Personal können Unikliniken nicht allein bezahlen

Wieso laufen die Verhandlungen dann so zäh?

So nehme ich das nicht wahr. Am 8. Juni hat uns Verdi nach drei Wochen intensiver Gespräche konkretisierte Vorstellungen vorgelegt, zwei Tage später hat die Verhandlungskommission der Universitätskliniken ihr Angebot gemacht. Darin haben wir den unmittelbar wirksamen Vorschlag unterbreitet, dass es fünf zusätzliche freie Tage für Kräfte in der Pflege am Bett gibt. Das schafft sofort Entlastung. Hinzu kommt Personalaufbau in einem Stufenplan.

Prof. Dr. Jochen Alfred Werner (63) steht seit 2015 dem Universitätsklinikum Essen als Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender vor. Zuvor war er ärztlicher Geschäftsführer der Universitätsklinikum Gießen und Marburg. Werner gilt als Fachmann für die Digitalisierung des medizinischen Apparats. Der gelernte HNO-Arzt mit dem Schwerpunkt Krebserkrankungen ist verheiratet und hat drei Kinder.
Prof. Dr. Jochen Alfred Werner (63) steht seit 2015 dem Universitätsklinikum Essen als Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender vor. Zuvor war er ärztlicher Geschäftsführer der Universitätsklinikum Gießen und Marburg. Werner gilt als Fachmann für die Digitalisierung des medizinischen Apparats. Der gelernte HNO-Arzt mit dem Schwerpunkt Krebserkrankungen ist verheiratet und hat drei Kinder. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Die Beschäftigten wollen aber nicht nur über Pflege sprechen. Sie wollen höhere Personalschlüssel für Betriebs-Kitas, Transport oder den Kreißsaal.

Dies war in den bisherigen Gesprächen kein konkretisierter Gegenstand. Pflege am Bett ist ohne Zweifel der Bereich, in dem es besonders drängt. Was den Kreißsaal betrifft brauchen wir ebenfalls stabile Lösungen. Es sind noch verschiedene Details zu klären.

Wie viel mehr Personal bräuchten Sie, um den Forderungen gerecht zu werden?

Die Erörterung zum notwendigen Personalumfang läuft. Aber, egal, was am Ende herauskommt: Wir Unikliniken werden das in keiner Weise allein stemmen können. Wir bekommen nur einen Teil der Kosten refinanziert, ein Aspekt, der aus ökonomischer Sicht für alle Formen von Krankenhäusern essenziell ist. Ohne Lösung der Finanzierung geht es auch um Sicherheit von Jobs. Niemand will Entlassungen für Entlastung. Es braucht also ein erhebliches Finanzvolumen, um sicher in die Zukunft zu gehen. Da wir uns in einem umlagefinanzierten System befinden, werden die Mehr-Kosten schlussendlich auch über Steuern und Beiträge beim Bürger ankommen. Das muss allen bewusst sein.

Wie wollen Sie mehr Personal gewinnen?

Das wird schwierig. Der Personalmarkt ist leer. Es ist eine Mär, dass frühere Berufsaussteiger in Scharen an ihre Arbeitsplätze zurückkommen. Am Ende wird Personal umverteilt, zulasten anderer Kliniken, und weiteres Personal aus dem Ausland rekrutiert. Das alles war bereits bei unserem Personalaufbau seit 2018 so. Deshalb ist es mir unverständlich, wieso man dieses ganze Thema nicht als bundesweites Problem angeht. Wir werden hier in NRW mit einem einzelnen Tarifvertrag keineswegs die Probleme im Gesundheitswesen lösen. Diese werden sich nach Abschluss der Verhandlungen über alle anderen Bundesländer weiter verschärfen.

Sondervermögen soll helfen, Gesundheitswesen neu zu starten

Was meinen Sie?

Das gesamte Gesundheitswesen steht unter einer extremen Belastung und vor massiven Herausforderungen – nicht nur, aber auch was das Personal angeht. Wir haben erhebliche Defizite in der Digitalisierung. Dazu kommt, dass viele Kliniken umstrukturiert oder geschlossen werden müssen. Auch der niedergelassene Bereich steht unter hohem Druck. Ich plädiere für eine Art ‚Sondervermögen Gesundheit‘ ähnlich wie das, was es für die Bundeswehr gibt. Das würde die unmittelbaren Belastungen hinauszögern und planerische Sicherheit geben.

100 Milliarden für die Gesundheit?

Ich will das an keiner Summe festmachen. In der Gesundheit werden 12 bis 13 Prozent des Bruttoinlandsproduktes generiert, womit Gesundheit eben nicht nur ein Kosten-, sondern auch ein Wirtschaftsfaktor ist. Das aber hilft einem Gesundheitswesen nicht, das als früheres Präzisionsuhrwerk inzwischen irreparabel defekt ist.

Hier muss das analoge durch ein digitales System ersetzt werden und ersetzt meint ein Reset. Alles andere klebt nur Pflaster auf Wunden, die nicht heilen und immer größer werden. Diese Umstellung braucht ein langfristig verfügbares Sondervermögen, das nicht alle vier Jahre infrage gestellt wird. So braucht es einen deutlich komplexeren Ansatz. Die Politik muss erkennen, dass es um unser aller größtes Gut geht.

1700 Patientinnen und Patienten nicht termingerecht operiert

Wie ist die Stimmung in Ihrem Haus?

Es gibt durchaus Konflikte innerhalb von Teams. Das hat auch damit zu tun, dass diejenigen, die hier sind, den Unmut der Patientinnen und Patienten abbekommen. Den Unmut kann ich gut nachvollziehen. Man darf nicht vergessen, dass zu uns Menschen kommen, die oft schwere Erkrankungen haben und eine lange Vorgeschichte mit sich bringen.

Bislang konnten wir 1700 Patientinnen und Patienten nicht termingerecht operieren. Bis zu 500 Betten waren bereits geschlossen. Dazu sind unsere Ambulanzen und Sprechstunden eingeschränkt. Ein relevanter Teil der OPs kann nicht zeitnah aufgeholt werden. Manche Patienten gehen auch ganz woanders hin, selbst wenn man für bestimmte Krankheitsbilder dort nicht die nötige Expertise hat.

Wieso helfen die Notdienstvereinbarungen nicht?

Sie betreffen viele Einzelschicksale nicht. Beispielsweise betreut unsere Lebertransplantationsambulanz weit über 1000 Patientinnen und Patienten. Für sie ist ein lückenloses Monitoring sehr wichtig. Was passiert, wenn nun Befunde später entdeckt werden, weil wir Nachsorgetermine verschieben müssen? Nach sieben oder acht Wochen Streik kann ich für die Folgen des Streiks medizinisch nicht mehr die Verantwortung übernehmen.

Sorge um den Ruf bei Praxen und Studierenden

Die Beschäftigten argumentieren, dass sie für eine bessere Patientenversorgung streiken.

So funktioniert das aber nicht. Es kommen seit Wochen Menschen zu schaden, weil Operationen nicht erfolgen und Untersuchungen verschoben werden.

Düsseldorf- Uniklinik-Kräfte fordern Politik zum Handeln aufWie groß ist der wirtschaftliche Schaden?

Der ist immens. Zudem sind wir an einem Punkt angekommen, an dem es nicht mehr nur darum geht, sondern auch um eine immense Rufschädigung der Universitätsmedizin. Wir haben schon beim Streik 2018 erlebt, dass niedergelassene Ärztinnen und Ärzte nicht mehr zu uns überwiesen haben, weil wir deren Patientinnen und Patienten nicht versorgen konnten. Dazu wird es wieder kommen. Und ich will nicht wissen, was der Streik mit unserem Ruf bei Medizinstudierenden macht. Schließlich sind wir auch Ort von Forschung und Lehre. Beides wird massiv beeinträchtigt.

Was bieten Sie also den Beschäftigten konkret an, um den Streik zu beenden?

Das erste konkrete Angebot liegt vor. Wir wollen eine optimale Besetzung hinbekommen. Den genauen Schlüssel gilt es zu verhandeln. Im Gegenzug fordern wir, dass der Streik für die schwerkranken Patienten ausgesetzt oder zumindest deutlich reduziert wird. Alle Unikliniken sind im vollen Bewusstsein, dass bestimmte Bereiche gestärkt werden müssen. Das muss aber besonnen verhandelt werden.