Gelsenkirchen. Corona offenbarte die Versäumnisse in der Bildungspolitik. Vor allem benachteiligte Jugendliche werden noch viele Jahre unter den Folgen leiden.
Die Corona-Pandemie trifft die Psyche und die Zukunftschancen junger Menschen mit einer selbst für Fachleute bisher kaum vorstellbaren Härte. Die Stiftung Talent-Metropole Ruhr, die begabte Jugendliche unterstützt, berichtet von Kindern, die in dieser Zeit völlig aus der Spur geraten sind und seit Wochen nicht mehr zur Schule gehen: „Wir verlieren viele Kinder und Jugendliche“, mahnt Stiftungs-Geschäftsführer Bernd Kreuzinger im Gespräch mit dieser Redaktion.
Die Eindrücke der Stiftung decken sich mit den Erkenntnissen des renommierten Bildungsforschers Prof. Klaus Hurrelmann über Schule in Pandemiezeiten: „30 Prozent der Schüler sind leistungsmäßig und in ihrer sozialen Entwicklung zurückgeblieben“, sagte Hurrelmann als Gast der SPD-Landtagsfraktion. Das zwei Milliarden Euro schwere Aufholprogramm des Bundes für Schüler-Nachhilfe beeindruckt den Forscher nicht. Es handele sich um einen „kläglichen Betrag“ im Vergleich zu den Milliardensummen, die in manche Wirtschaftszweige und an große Konzerne fließen. Die Landtags-SPD fordert unter anderem eine Personaloffensive für die Schulen im Land.
Lehrerverband fordert „Jahrhundertreform“
Die Schutzgemeinschaft angestellter Lehrer (Schall NRW) beklagt in einem neuen Positionspapier eine „Bildungskatastrophe“ in Deutschland und in NRW und fordert eine „Jahrhundertreform“. Für die aktuelle finanzielle Ausstattung des Schulsystems gibt der Verband die Note „6“. Innerhalb der Europäischen Union belege Deutschland – eines der reichsten Länder der Welt - bei den öffentlichen Bildungsausgaben nur den 15. Platz, kritisiert Schall-Vorsitzender Ralf E. Heinrich.
NRW rangiere in puncto Bildungsausgaben pro Schüler auf dem letzten Platz aller 16 Bundesländer, und im Ruhrgebiet zählten über ein Drittel der Schulen als „Brennpunktschulen“. Dass die Landesregierung nur 60 von insgesamt 1800 „Brennpunktschulen“ zusätzlich mit großem Aufwand unterstützt, ist nach Einschätzung dieses Lehrerverbandes ein „Armutszeugnis“. Lehrermangel, Unterrichtsausfall und unqualifizierter Unterricht prägten die Bildungslandschaft in NRW. Schall NRW fordert unter anderem eine Verdoppelung der Bildungsausgaben, um die „Katastrophe“ abzuwenden.
Freies Wlan: Mit dem Handy vor der Bäckerei
Manche Lehrer machten sich zu Beginn der Pandemie persönlich auf den Weg, um Schülerinnen und Schüler die Aufgaben nach Hause zu bringen. Oftmals scheiterten sie, weil es keine Namensschilder an den Türen gab, weil die Adresse nicht stimmte, weil niemand zu Hause war oder weil eine sprachliche Verständigung mit den Eltern schließlich nicht möglich war.
Andere Kinder und Jugendliche bemühten sich, dem Fernunterricht so gut wie möglich zu folgen. Lehrkräfte berichteten von Schülergruppen, die mit ihren Handys bei Minusgraden stundenlang vor einer Bäckereifiliale standen, weil es dort freies Wlan gab. Dort versuchten sie, ihre Hausaufgaben auf dem kleinen Handydisplay zu lösen. Zahlreiche Schilderungen dieser Art erreichten in den letzten Monaten Bernd Kreuzinger, Geschäftsführer der Stiftung Talent-Metropole Ruhr in Gelsenkirchen, die mit zahlreichen Projekten benachteiligte Kinder und Jugendliche unterstützt.
Die soziale Schere öffnet sich noch weiter
Schon vor der Pandemie gab es eine Kluft zwischen Schulen in bürgerlichen Vierteln und solchen, die man als „Problemviertel“ oder „soziale Brennpunkte“ bezeichnet. Doch durch die Pandemie geht die soziale Schere weiter auf. „Wir verlieren viele Kinder und Jugendliche“, mahnt Kreuzinger. Die engagierte Oberstufenleiterin der Theodor-König-Gesamtschule in Duisburg Beeck, Cordula Hiller-Kitzmann, kann dem aus eigener Erfahrung nur zustimmen.
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Sie berichtet von Kindern, die den Halt verlieren, die kein Ziel mehr für sich sehen, die sich vergessen und abgehängt fühlen, denen Unterstützung und ein geregelter Tagesablauf fehlt, weil der „Sozialraum Schule“ weggebrochen ist. „Um einige mache ich mir wirklich Sorgen, dass sie sich etwas antun“, sagt sie ernst.
Einige Schüler tauchten nicht mehr auf
Manche Jugendliche seien nach dem Neustart des Schulbetriebs überhaupt nicht mehr zum Unterricht erschienen. Die Schule wisse nicht, wo sie geblieben sind, sie sind einfach nicht mehr erreichbar, erzählt sie. „Wir haben einige Schüler schlicht aus den Augen verloren, sie kommen nicht mehr. Wenn sie volljährig sind – was sollen wir tun?“
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Bildungsgerechtigkeit war schon vor der Pandemie ein Mega-Thema, sagt Marcus Kottmann, Leiter des NRW-Zentrums für Talentförderung in Gelsenkirchen. Doch jetzt habe das eine neue Dimension. „In Schulen, wo schon vor der Krise 70 bis 80 Prozent der Schülerinnen und Schüler in Hartz-IV waren, ist durch die Pandemie oftmals der Rest an Tagesstruktur und Teilhabe verloren gegangen. Manche Schüler wurden komplett abgekoppelt“, sagt Kottmann.
Studien bestätigen: Nachteile für Kinder aus bildungsfernen Familien
Damit meint er nicht nur den Schulunterricht, sondern auch Freizeitangebote, Sport, Vereinsleben, Förderkurse, Gespräche mit Lehrern, Nachhilfe. Auch die sprachlichen Fähigkeiten hätten gelitten, da manche Kinder über Wochen kein Deutsch gesprochen hätten. „Im Unterricht haben wir die Chance, Problemfälle frühzeitig zu erkennen und gegenzusteuern“, ergänzt Pädagogin Hiller-Kitzmann. „Aber wenn wir die Kinder nicht mehr sehen…?“
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Studien bestätigen die Erfahrungen der Praktiker. Demnach leiden besonders Kinder und Jugendliche aus weniger privilegierten Elternhäusern unter den Phasen des „Homeschoolings“. Weniger privilegiert – das heißt aus bildungsfernen Haushalten, die in der Regel in Armut und im Sozialhilfebezug, ohne Bildungsvorbilder und häufig in migrantisch geprägten Milieus leben. Die Pandemie habe die soziale Kluft in der Bildung vergrößert, was nicht ohne Auswirkungen auf künftige Ausbildungswege bleiben werde, lautet ein Fazit.
Defizite setzen sich in nächsten Schuljahren fort
Jetzt erlebe das System Schule, welcher gigantische Berg an Versäumnissen in Bildungsinvestitionen sich aufgestaut hat, sagt Bernd Kreuzinger. Man laufe Gefahr, im nun folgenden Auf- und Nachholprozess weitere Kinder und Jugendliche zu verlieren. Denn die Folgen der Pandemie würden Schüler und Lehrer noch viele Jahre begleiten, ist sich Marcus Kottmann sicher. Wenn etwa in der fünften Klasse zentraler Stoff in den Hauptfächern verpasst wurde, ziehen sich diese Defizite weiter in die nächsten Schuljahre. „Den Stoff einfach aufholen? Wie denn? Das hat mir noch keiner erklärt“, fragt Kottmann. „Wir werden auch im nächsten Jahr kein normales Abitur erleben.“
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Viele Jugendliche fühlten sich übergangen und fragen nach einem Plan, nach einem Weg für sich. „Sie haben Angst um ihre Zukunft.“ Mit den bekannten Rezepten und Aufholprogrammen komme man nicht mehr weiter, sind die Bildungsexperten überzeugt. Dabei sei es nun vordringlich, auf die betroffenen Schülerinnen und Schüler zuzugehen und ihnen Angebote zu machen. Nicht nur, um diese jungen Menschen wieder „in die Spur“ zu bringen, betont Kottmann. „Es liegt in unserem eigenen Interesse, diese Jugendliche zu fördern und ihre Talente zu entwickeln.“ Nötig sei nun eine langfristige Strategie, wie Schüler aus problematischen Milieus Bildungschancen vermittelt werden können.
Die Pandemie als Chance
Und er nennt ein Beispiel: „Unsere Kursangebote in den Talent-Kollegs in Mathe, Deutsch, Englisch, Informatik sowie die Studien- und Berufsorientierung werden überrannt. Die Jugendlichen kommen freiwillig. Das zeigt, sie wollen lernen, sie haben Ambitionen, sind motiviert“, schildert Kottmann seine Erfahrungen. „Diese Bereitschaft müssen wir nutzen.“ Daher sollten solche außerschulischen Angebote ausgebaut werden. So gesehen sei die Pandemie auch eine Chance: „Jetzt ist die Zeit, um grundsätzliche Reformen auf den Weg zu bringen.“
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Bernd Kreuzinger fordert von den Schulen und Vereinen darüber hinaus unkonventionelle Maßnahmen und mehr Flexibilität: „Die Schüler brauchen Lernräume außerhalb der eigenen Wohnung. Warum öffnen wir die Schulen und Sportanlagen nicht auch nachmittags, an Wochenenden oder in den Ferien?“ Lehrerin Cordula Hiller-Kitzmann unterstützt solche Angebote: „Kinder sind unsere Zukunft, das müssen wir ernst nehmen“, betont sie und sagt: „Meine Schüler sind es wert.“
>>>> Das NRW-Zentrum für Talentförderung
Ziel des NRW-Talent-Scouting-Projekts ist die gezielte Förderung von motivierten und leistungsstarken jungen Menschen. Was 2011 als Pilotprojekt mit Suat Yilmaz an der Westfälischen Hochschule in Gelsenkirchen begann, hat sich durch die Förderung des Landes auf inzwischen 17 Hochschulen ausgeweitet.
Mehr als 70 speziell geschulte Talentscouts begleiten an rund 400 Berufskollegs, Gesamtschulen und Gymnasien Schülerinnen und Schüler von der Oberstufe bei ihrem Übergang in Studium oder Berufsausbildung. Nach dem Vorbild des Talent-Kollegs in Herne, wo Jugendliche in Kleingruppen gefördert werden, sollen solche Einrichtungen auch in Gelsenkirchen, Hagen und Oberhausen entstehen.