Berlin/Essen. .

Mädchen werden anders erzogen als Jungen – trotz moderner Rollenvorstellungen. Die Folge: Wie neue Studien zeigen, trauen sich Mädchen immer noch wenig zu und messen ihren Selbstwert am Aussehen. Jungen dagegen erscheinen neuerdings als Problemkinder der Nation.

Seit Jahrzehnten versuchen aufgeklärte Mütter und Väter, Pädagogen und Kinderbuchautoren alte Rollenklischees aus der Erziehung zu vertreiben – umsonst? „In den letzten 30 Jahren ist das Äußere, also Schminken, Kleidung, Attraktivität, für das Selbstbild der Mädchen besorgniserregend stark geworden“, sagt Renate Valtin, Pädagogikprofessorin an der Berliner Humboldt-Universität.

Valtin hat vor allem die „heimlichen Erzieher“ als Quelle für solche einseitigen Geschlechtermodelle gefunden: Rollenvorbilder in den Medien, etwa in Castingshows oder Teenie-Serien, Produktmarketing mit starker Geschlechtertrennung (rosa und süß/düster und wild) und oft unbewusste, aber hartnäckige Rollenklischees in der häuslichen Erziehung.

Ministerin will mehr Männer als Erzieher

Eine Langzeitstudie mit über 3000 Berliner Schülern hat jetzt gezeigt, dass die meist deutlich besseren schulischen Leistungen der Mädchen sich offenbar weder im Selbstwertgefühl noch im Vertrauen auf künftige Leistungsfähigkeit niederschlagen. So ließe sich auch erklären, warum noch immer so wenige Mädchen ehrgeizige, gut bezahlte Berufswege einschlagen würden, sondern typische Frauenberufe wählen.

Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU), die jüngst mit ihrer Feminismuskritik für Protest gesorgt hatte, setzt ihren Schwerpunkt allerdings derzeit stärker bei den Jungen und will mehr Männer als Erzieher und Lehrer gewinnen. Der Dortmunder Soziologe Michael Meuser stimmt hier nur teilweise zu. Die Leistung von Jungen sei „nicht generell besser, wenn Männer unterrichten“. Ein Grund für schlechte Noten bei Jungen könne sein, „dass sie Leistungsverweigerung als bewusste Inszenierung von Männlichkeit verstehen“. Jungen aus Bildungsmilieus dagegen seien in der Schule nicht schlechter als Mädchen.

Was Zehnjährige über sich schreiben

„Wie erziehen wir unsere Kinder?“ In einer neuen Serie fragt die WAZ nach heimlichen und offensichtlichen Erziehern, nach Mädchenmustern und Musterjungen. Folge 1: Was Zehnjährige über Mädchen und Jungen schreiben.

Es beginnt im dritten Lebensjahr. Sobald Kinder unterscheiden, ob sie Mädchen oder Junge sind, suchen sie nach Orientierung: Was macht eine Frau aus? Wann ist ein Mann ein Mann? Mit zehn Jahren können sie sogar Aufsätze darüber schreiben – die Berliner Wissenschaftlerin Valentin hat jetzt einige hundert Hefte verglichen, von 1980 und 2010. Damals wie heute war die Aufgabe: „Schreibt auf, warum ihr gerne ein Mädchen seid bzw. ein Junge.“

„Weil ich schneller rennen kann“

Die Jungen von 2010 klopfen sich an die Brust: Der zehnjährige David etwa ist gerne eine Junge „weil Jungen stärker sind, weil ich besser mit Holz bauen kann, weil ich schneller rennen kann.“ Auch seine Altersgenossen halten sich für mutiger, geschickter, sportlicher als Mädchen. Sie sind stolz, dass sie „im Stehen pinkeln“ können und dass sie lieber Quatsch machen als sich anzuzicken wie die Mädchen. „Jungen“, sagt Studienleiterin Valtin, „sind offenbar recht zufrieden mit ihrem Geschlecht.“

Im Unterschied zu der aktuellen Debatte über Jungen als überforderte Problemkinder heben die Jungen selbstbewusst und sogar noch stärker als 1980 die vermeintlichen Vorzüge ihres Geschlechts hervor: Mädchen seien „zu blöd“ zum Autofahren, haben „mehr Angst vor Spinnen“ und „sind Heulsusen“. Der eine oder andere ist allerdings froh, dass er keine Kinder zur Welt bringen muss, „weil das bestimmt weh tut“.

Anders als bei den Jungen hat sich bei den Mädchen in den letzten 30 Jahren etwas Entscheidendes verändert. 1980 hatten die Mädchen vier Bereiche aufgezählt, die für sie zum Mädchensein gehören: Fähigkeiten im Haushalt, Attraktivität und schöne Kleidung, körperliche Fähigkeiten und Spiele wie Gummitwist oder Geräteturnen, und schließlich soziale Fähigkeiten wie Fürsorglichkeit und Angepasstheit. „Heute überwiegen deutlich die Äußerungen, die sich auf Schönheit und modische Eigenschaften beziehen“, bilanziert Valtin.

„Weil ich besser shoppen gehen kann“

Mit deprimierender Regelmäßigkeit lese man Sätze wie „Ich bin gern ein Mädchen, weil ich lange Haare habe“, „weil ich mich schminken kann“, „weil ich schöne Sachen machen kann“, „weil ich besser als Jungen shoppen gehen kann“.

Sicher, bei Zehnjährigen erwartet niemand, dass sie rollenkritische Aufsätze schreiben – doch hätte man nicht auf ein bisschen weniger Traditionshuberei gehofft? Valtin sagt: „Die Erwartung, dass sich nach 30 Jahren die Einstellungen in Richtung Gleichheit geändert hätten, hat sich jedenfalls nicht erfüllt.“

Viele Zehnjährige schminken sich für die Schule, setzen sich auf Diät und nennen „Shoppen“ als Lieblingsbeschäftigung. Zehntausende melden sich später zu Casting-Shows an und merken oft erst spät, dass der ganze Girlie-Glamour nichts anderes ist als ein Geschäft mit kaufkräftigen Teenies. Verschärfen sich so am Ende die Rollenbilder? „Es gibt keine geschlechtsneutrale Erziehung“, sagt Pädagogin Valtin. Besorgte Eltern Väter könnten allerdings einen Schutzwall errichten – Geborgenheit geben und aufgeklärte Rollenbilder vorleben.

Traditionelle Rollenbilder

Michael Meuser, Dortmunder Geschlechterforscher und Mitglied des Beirats für Jungenpolitik der Bundesregierung, findet die Entwicklung indes uneindeutig: „Ich sehe auch, dass traditionelle Rollenbilder bei Mädchen und Jungen überraschend stabil sind. Allerdings gibt es auch gegenläufige Entwicklungen. Zum Beispiel beginnen auch die Jungen, ihren Körper stärker mit Kleidung und Kosmetika zu inszenieren.“