Essen.
Das Bundesverfassungsgericht hat den „Soli“ gerettet - vorerst. Die Debatte schwelt weiter, das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Denn mit dem umstrittenen Zuschlag kassiert der Staat mehr, als er für den Aufbau Ost ausgibt. Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Die Einheit ist dem deutschen Durchschnittsverdiener schon einen halben Hunderter wert. Pro Monat. Seinen Anteil zahlt er seit 1995, obwohl der Solidaritätszuschlag nur als zeitlich begrenzte Zahlung gedacht war. Immer drängender wird deshalb die Frage nach der Abschaffung gestellt. Mit der Entscheidung des Verfassungsgerichts könnte – pünktlich zum 20. Jahrestag der Wiedervereinigung – eine neue Debatte über die „Steuer der Einheit“ angestoßen werden.
Was bedeutet die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts?
Der „Soli“ bleibt – zunächst. Das Bundesverfassungsgericht hat den Vorstoß des niedersächsischen Finanzgerichts abgeblockt, den 5,5-prozentigen Zuschlag auf die Einkommens- und Körperschaftssteuer für verfassungswidrig zu erklären. Tenor der Entscheidung: Das Gericht in Hannover habe wichtige Fragen nicht beraten oder berücksichtigt. Doch die juristische Auseinandersetzung ist damit nicht beendet. Karlsruhe hat sich kaum Zeit für die Beratung genommen, keine Anhörungen dazu veranstaltet und auch letztinstanzliche keine Entscheidung über den Solidaritätszuschlag gefällt.
Gibt es noch Möglichkeiten, den Zuschlag auszubremsen?
Ja. Das niedersächsische Gericht könnte sich noch einmal mit dem Fall des Klägers Eike Hagemann befassen. Der Lebensmitteltechniker hatte sich dagegen gewehrt, dass er im Jahr 2007 1000 Euro Soli zahlen musste. „Ich kann nicht ausschließen, dass es eine Neuauflage gibt“, sagt der zuständige Berichterstatter des Finanzgerichts, Michael Balke. Politisch müsste ein Vorstoß zur Abschaffung wohl aus den Reihen der Länder kommen. Der Bund will die Abgabe behalten, weil das Geld voll in seine Kasse fließt.
Gibt es neue Argumente?
Ja. Der Wirtschaftswissenschaftler Adrian Ottnad hat festgestellt, dass der Staat über den Soli viel mehr einnimmt als er für die im Solidarpakt II versprochenen Aufbauhilfen ausgeben muss. „Wir haben eine Überdeckung von rund 35 Milliarden Euro“, schätzt Ottnad. Die Rechnung: Bis 2019 stehen den Regionen im Osten noch knapp 50 Milliarden Euro zu, wobei die jährlichen Raten von 2010 (12,9 Milliarden Euro) bis 2019 auf dann 2,8 Milliarden langsam sinken. Derzeit kassiert der Bund aber schon zwischen zehn und zwölf Milliarden Euro über den Soli – jährlich! Damit wird er bis 2019 80 bis 90 Milliarden eingenommen haben.
Wieviel wurde bisher für den Aufbau Ost ausgegeben?
Bisher dürfte die Einheit Deutschland rund 1,5 Billionen Euro gekostet haben. Die Summe umfasst alles: Von den Zahlungen der Regierung Kohl für den Abzug der sowjetischen Truppen bis zu den geschätzt 15 Milliarden Euro, die der Staat jedes Jahr zur Aufrechterhaltung der Altersversorgung in den neuen Bundesländern der Rentenversicherung überweist. An direkten Hilfen fließen im Zug des Solidarpaktes II zwischen 1995 und 2019 156 Milliarden in den Osten. Auch die westlichen Bundesländer und Kommunen beteiligen sich über einen komplizierten Schlüssel. So werden die Städte des Ruhrgebiets seit der Einheit selbst etwa zwei Milliarden Euro für den Osten „geopfert“ haben, und die Oberbürgermeister klagen darüber. Sie müssen das Geld oft über Schulden finanzieren.
Wirken die Hilfen?
„Wenn der Zug der Einheit rollt, darf niemand unter die Räder kommen“, hat Willy Brandt verlangt. Vor allem die südlichen neuen Länder haben profitiert. Die finanzielle Lage von Sachsen und Thüringen ist heute besser als die mancher West-Länder, die Arbeitslosenquote von Städten wie Dresden und Leipzig niedriger als die mancher Ruhrgebiets-Kommunen.
Anders sieht es im Nordosten aus, weil die jungen Menschen Jobs im Westen suchen und finden. In Mecklenburg-Vorpommern entvölkern sich deshalb ganze Landstriche.
Die Lebensverhältnisse sind inzwischen weitgehend angeglichen: Erfurter und Dortmunder haben es im Schnitt gleich weit zur nächsten Autobahn (10 Minuten). Die Ausstattung der privaten Haushalte mit Pkw, Internet, Unterhaltungselektronik und Haushaltsgeräten ist längst vergleichbar. Unterschiede gibt es beim Einkommen – wobei die Mieten im Osten niedriger sind als im Westen.
Was hält die Bevölkerung vom „Soli“?
Wenig. Nach einer neuen Forsa-Umfrage sind 71 Prozent der Auffassung, 20 Jahre nach der Einheit sei der Solidaritätszuschlag nicht mehr nötig. Nur 23 Prozent wollen ihn behalten. Aber selbst im Osten ist eine relative Mehrheit (45 Prozent) für die Abschaffung.