Paris. .

Die werktätigen Menschen in Deutschland haben allen Grund, ungläubig und neidvoll auf die andere Rheinseite zu schauen. Während die Rente mit 67 für sie längst beschlossene Sache ist, genießen die Franzosen das Rentnerparadies. Und sie denken nicht daran, sich von diesem in Europa nahezu einzigartigen Privileg, der Rente mit 60, freiwillig zu verabschieden.

Schon zum zweiten Mal binnen vierzehn Tagen schwappte eine beachtliche Streikwelle über das Land. Auch am Donnerstag gingen sie wieder auf die Straße, um Nicolas Sarkozys Projekt „Rente mit 62“ die Stirn zu bieten. Erneut blieben im ganzen Land Eisenbahnen in den Depots, Flugzeuge im Hangar und Lehrer den Schulen fern. Selbst wenn bei den über 230 Kundgebungen nicht ganz so viele Menschen mobilisiert wurden wie am 7. September (ca. 2 Millionen Teilnehmer), bleibt die Kampfbereitschaft weiterhin groß.

Für den Präsidenten wie für die Gewerkschaften steht viel auf dem Spiel. Die Rentenreform zählt zu den ehrgeizigsten Projekten seiner fünfjährigen Amtszeit – aus Sicht der „Arbeiter-Syndikate“ begeht er damit einen schändlichen Tabubruch. Denn schon seit bald 30 Jahren erfreuen sich die Franzosen der Segnungen ihrer Rentenregelung, die sie den euphorischen Anfängen der Ära Mitterrand zu verdanken haben.

Riskante Konstruktion

Dass die französische Rentenkasse mit dieser äußerst unstabilen und riskanten Konstruktion – niedrigste Lebensarbeitszeit bei höchster Lebenserwartung in Europa – jedoch zwangsläufig auf ein Desaster zusteuern würde, war so sicher wie das Amen in der Kirche. Bezeichnend, dass der konservative Premierminister Alain Juppé schon 1995 das Rad der Geschichte zurückdrehen wollte. Doch seine umfassende Rentennovelle löste im Spätherbst 1995 die heftigsten Demonstrationen seit den Pariser Mai-Unruhen 1968 aus. Über drei Wochen lang wurde keine Post ausgetragen, in Paris türmte sich der Müll, der Zugverkehr brach weitgehend zusammen. Am Ende musste die Regierung klein beigeben, während die Gewerkschaften triumphierten.

Unbezahlbarer Luxus

So modern und fortschrittlich, gar revolutionär die Franzosen erscheinen mögen, in Wirklichkeit haben sie es sich in einer Privilegiengesellschaft mit zahllosen gemütlichen Nischen bequem gemacht. Und wenn es darum geht, Pfründe wie etwa die Rente mit 60 zu verteidigen, kehren sie den knallharten Egoisten heraus.

Es erfordert keine besonderen Finanzkenntnisse, um zu erahnen, dass sich Frankreich mit seinem Rentensystem einen Luxus leistet, der schier unbezahlbar ist. Schon 2010 klafft ein 32-Milliarden-Euro-Loch in der Rentenkasse, das nach Expertenschätzungen bis 2050 auf gespenstische 70 bis 100 Milliarden anwachsen könnte. Ein Mühlstein, der künftige Generationen in die Knie zwingt.

Tumulte auf der Straße

Trotz des Protests auf der Straße und der Tumulte im Palais Bourbon, dem Sitz der ehrwürdigen Nationalversammlung, nickte die konservative Mehrheit im Parlament den Sarkozy-Plan letzten Mittwoch mit 329 gegen 233 Stimmen ab. Dieses Votum sieht nicht nur die Rente ab 62 vor, sondern auch die Anhebung der Beitragsjahre. Um in den Genuss der vollen Rente zu kommen, müssen die Franzosen von 2012 an 41 Jahre und von 2018 an 41,5 Jahre in die Rentenkasse einzahlen.

„Wir leben länger, also müssen wir auch länger arbeiten“, rechtfertigt Arbeitsminister Eric Woerth die Reform. Eine Einsicht, die offenbar zunehmend immer mehr Franzosen teilen. Einer Umfrage der Zeitung „Dimanche Ouest-France“ zufolge befürworten inzwischen 53 Prozent die Rente mit 62.