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Die Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor (32) gibt liberal denkenden Muslimen eine Stimme. Im WAZ-Gespräch zeigt sie Verständnis für das Burka-Verbot in Frankreich und Belgien. Die Aufregung über die Gottesformel der Ministerin Aygül Özkan hält die Duisburgerin für absurd.

Frau Kaddor, was halten Sie von der Forderung der neuen niedersächsischen Sozialministerin Aygül Özkan, Kruzifixe in Schulen nicht zuzulassen?

Lamya Kaddor: Das ist ein wichtiges Signal. Jetzt kann man endlich sehen, dass es auch Muslime in Deutschland in hohe öffentliche Ämter schaffen können und dass sie sich in politische Fragen dieses Landes einbringen wollen. Frau Özkan hatte natürlich Recht mit ihrer Forderung. Verfassungsrechtlich ist das, was sie gesagt hat, völlig in Ordnung. Kopftuch und Kruzifix sind religiöse Symbole. Natürlich sollten sie gleich behandelt werden. Entweder man verbannt sie alle aus öffentlichen Gebäuden oder keines. Beides tut der christlichen Geschichte dieses Landes jedenfalls keinen Abbruch. Der frühe Zeitpunkt für die Aussage war vielleicht etwas unglücklich. Außerdem ist Frau Özkan Mitglied der CDU und hätte wissen müssen, dass sie mit ihren Ideen da nicht nur Freunde findet.

Viele haben sich daran gerieben, dass Özkan als Muslimin „So wahr mir Gott helfe“ bei der Vereidigung gesagt hat.

Kaddor: Die Frage, ob Christen, Muslime und Juden an den gleichen Gott glauben, ist doch absurdes Theater. Natürlich ist das so. Die reflexartige Verteidigungshaltung mancher Geistlicher an dieser Stelle ist ärgerlich. Sie fühlen sich sofort bedrängt, wenn eine muslimische Ministerin von dem einen Gott spricht. Da ist gleich das christliche Abendland in Gefahr. Was für ein Nonsens! Die Religionen müssen auf ihren Absolutheitsanspruch verzichten. Der ist vielleicht in der Entstehungsphase einer Religion wichtig, aber nicht mehr heute.

Belgien und Frankreich verbieten das Tragen von Ganzkörperschleiern. Ist das Ihrer Ansicht nach in Ordnung?

Kaddor: Ich kann die Diskussionen in Belgien und Frankreich in gewisser Weise verstehen. Ein Ganzkörperschleier oder eine Burka ist jedenfalls theologisch gesehen nicht notwendig, der Koran schreibt das nicht vor. Sogar die große Mehrheit der konservativen Muslime in Deutschland kann es nicht verstehen, wenn sich Frauen auf diese Weise komplett verhüllen oder komplett verhüllt werden. Die Burka ist aus meiner Sicht ein Zeichen für Fundamentalismus. Beim Kopftuch ist das anders. Allerdings muss man sich die Frage stellen, wie viele Frauen überhaupt Burka tragen. Meines Wissen sind das nur ein paar. Von daher stellt sich auch die Frage, warum man das jetzt unbedingt gesetzlich regeln muss.

Sie wollen einen Verein gründen, der sich für einen modernen und liberalen Islam einsetzt. Warum?

Kaddor: Im Moment beanspruchen die vier großen konservativen muslimischen Verbände in Deutschland die Deutungshoheit über den Islam. Sie sind organisiert, und sie können ihre Botschaften gut verbreiten. Ich glaube aber, dass es eine schweigende Mehrheit unter den Muslimen in Deutschland gibt, die sich von ihnen nicht vertreten fühlt und anders denkt. Beweisen kann ich das nicht, denn Religion ist für diese Menschen in erster Linie Privatsache. Aber es gibt bei vielen unorganisierten Muslimen eine Sehnsucht nach einem zeitgemäßen Islam. Nach einem Islam, der auch in der heutigen Zeit lebbar ist, der der Globalisierung, dem technischen Fortschritt oder dem heutigen Sexual- und Moralverständnis Rechnung trägt. Diese Sehnsucht könnte der neue Verein aufnehmen. Er könnte Impulse für eine Weiterentwicklung liefern. Der Koran ist jedenfalls kein Hindernis dafür. Er ist ein Zeugnis seiner Zeit, ich glaube daran, dass er das göttliche Wort enthält. Allerdings ist es in seinem Wortlaut an die damals auf der arabischen Halbinsel lebenden Menschen gerichtet.

Was repräsentieren die vier großen muslimischen Verbände in Deutschland?

Kaddor: Die meisten Mitglieder unterstreichen zum Beispiel immer die Bedeutung der Heimat, also der Herkunftsländer der ersten Einwanderergeneration. Tatsache ist aber: Die Heimat zumindest der Nachfahren ist Deutschland. Darum möchte ich auch nicht ständig daran erinnert werden, dass meine Eltern noch irgendeine andere Heimat haben. Das weiß ich, und ich weiß diese Herkunft zu schätzen. Aber trotzdem reicht es, wenn einem manche Menschen, die keinen Migrationshintergrund haben, immer einreden möchten, dass man eigentlich nicht deutsch ist. In den Verbänden stößt man zudem auch immer wieder auf ein zum Teil ziemlich verqueres Frauenbild.

Sie haben islamische Religionslehrer ausgebildet und unterrichten selbst. Wie groß ist die Chance, in Deutschland flächendeckend islamischen Religionsunterricht einzuführen?

Kaddor: Zunächst einmal ist das eine Angelegenheit der Länder. Ich glaube nicht, dass die Islamkonferenz die Weichen für den Religionsunterricht in Deutschland stellen kann. Hoffentlich gelingt es, in NRW in den nächsten Jahren allen muslimischen Schülern diesen Unterricht anzubieten. Das geht nicht ohne die Unterstützung der vier großen islam-Verbände. Sie repräsentieren immerhin gut 30 Prozent der Muslime in Deutschland. Darüber hinaus muss man aber in die Runde derer, die über die Einführung so eines Unterrichts beraten, auch die Mehrheit der anderen, der unorganisierten Muslime einbeziehen.