Berlin. Bundeskanzlerin Angela Merkel gibt im zweiten Teil des Interviews mit der WAZ-Gruppe Einblicke in ihre Lebensgeschichte in der DDR - und unterscheidet dabei deutlich zwischen dem privaten und politischen Leben. Am Charakter der DDR als Unrechtsstaat ändere das aber nichts.

Frau Bundeskanzlerin, wie war es in Hohenschönhausen? Wie haben Sie es empfunden? Wie sind Sie überhaupt da hingekommen? Die erste Kanzlerin, die die Stasi-Gedenkstätte besucht.

Merkel: Ich habe mir für diese erste Legislaturperiode vorgenommen, dass ich sowohl die Stasi-Unterlagenbehörde besuche - das habe ich vor einigen Monaten getan - als auch das ehemalige Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen. Ich halte es für wichtig, dass dieser Teil der DDR-Geschichte nicht in Vergessenheit gerät oder verblasst. In Hohenschönhausen machen viele ehemalige Häftlinge die Führungen. Mich hat Gilbert Furian begleitet, der dort inhaftiert war. Das war sehr bewegend und authentisch.

Gedenkstättenleiter Hubertus Knabe war mal in Essen beim Politischen Forum und hat über die Verharmlosung, ja Verklärung der DDR berichtet. 3000 fassungslose Ruhrgebietler haben sich das angehört. Teilen Sie diesen Eindruck der Verklärung?

Merkel: Wir haben leider ein hohes Maß an Unwissen. Wer keine Verwandten in der DDR hatte, der hat sehr wenig erfahren. In Hohenschönhausen haben mir Lehrer, die ich dort mit ihren Schülern getroffen habe, berichtet, dass die DDR heute im Unterricht nur sehr kurz als ein Kapitel des Kalten Krieges behandelt wird. Was für meine Generation und die Älteren 40 Jahre lang Lebenswirklichkeit war, ist jetzt ein knapper Abschnitt im Geschichtsbuch. Viele Schattierungen gehen verloren. Die ehemaligen Häftlinge haben geschildert, dass Hohenschönhausen im Grunde die Spitze eines Eisberges war. Von dieser Spitze abwärts wurden in verschiedenen Abstufungen praktisch jedem Menschen vom System Grenzen für sein Leben in der DDR aufgezeigt.

Können Sie den „Eisberg" näher beschreiben?

Merkel: Wegen Nichtigkeiten wurden Menschen in Hohenschönhausen eingesperrt und misshandelt. Herr Furian, der mich begleitet hat, hatte Interviews mit Punks geführt und wollte sie an Freunde in den Westen übermitteln. Dafür wurde er eingesperrt. Man konnte sehr schnell aus dem vermeintlich normalen Leben in eine bedrückende Situation geraten. Das kennzeichnet die Spitze des Eisbergs. Darunter gab es abgestufte Druckmittel, wurde es Kindern erschwert, Abitur zu machen, wenn ihre Eltern sich nicht wohlgefällig verhielten. Karrieren wurden behindert oder ins Aus gestellt, um Menschen gefügig zu machen.

Gab es Gutes in der DDR?

Merkel: Was nichts mit dem Staat zu tun hatte, das Private: Die Familien, die Freunde. Es gab schöne Weihnachtsfeste, es gab gut und schlecht gelaunte Eltern. Es gab eben das, was man privat hatte, wie es einer der Häftlinge schön ausgedrückt hat: den ersten Kuss, die erste Liebe, die Eheschließung, die Geburt der Kinder, die Trauer um verstorbene Angehörige. Die große Mehrheit hat versucht, die Werte, die uns in Deutschland gemeinsam wichtig sind, im privaten Leben auch zu leben. Nur so war es überhaupt möglich, nach vierzig Jahren den Weg zur Einheit zu finden. Und auch darauf wurde in Hohenschönhausen hingewiesen: Gut ein Prozent der Menschen in der DDR waren Stasispitzel. Das war damit immer noch das dichteste Überwachungssystem der Welt, aber eine sehr große Mehrheit war eben nicht Stasi-Spitzel.

Sie nennen Privates. Es werden aber immer auch die tollen Krankenhäuser, die Kinderbetreuung und die Tatsache hervorgehoben, dass alle Frauen Arbeitsplätze hatten...

Merkel: All das darf man aber nicht getrennt vom System der DDR betrachten, das ein Unrechtssystem war. Das menschlich, persönlich Gute kann das System der DDR nicht legitimieren. Es gab Kinderbetreuung, aber das miserable Wirtschaftssystem erforderte auch, dass möglichst jeder erwerbstätig war. Einige trotzig erscheinende Reaktionen im Osten nach der Einheit muss man jedoch auch verstehen können. Ein Beispiel, das zeigt, was ich meine: In meinem Wahlkreis errechnete ein Beamter aus dem Westen, dass im Verhältnis von Wohnraum zu Schrebergarten der Schrebergartenanteil im Osten höher sei als im Westen. Und dann sagten Bürger mir, dass deswegen nun ihre Schrebergärten verkleinert werden sollten. Aber die Neubauwohnungen der DDR vom Typ WBS 70 hatten nicht die Größe einer vergleichbaren mittleren westdeutschen Wohnung, weshalb der Schrebergarten eine wichtige Funktion hatte. Und die Menschen sagten dann, das war doch gut, das will man uns jetzt wegnehmen. Den Frust darüber kann wohl jeder verstehen, wenn er eine Sekunde länger über dieses Beispiel nachdenkt.

Wie haben Sie als Tochter eines Pfarrers die kämpferische Gottlosigkeit der DDR empfunden?

Merkel: Jeder hat das erlebt. Wir hatten keinen Religionsunterricht an der Schule, wir gingen deshalb aus eigener Entscheidung zur Christenlehre. Das wurde kritisch gesehen, wie uns mit vielen Hinweisen deutlich gemacht wurde. Ich als Pfarrerstochter hatte es dabei noch relativ leicht, weil dieser Besuch bei uns klar war. Aber für Kinder, deren Eltern nichts mit der Kirche zu tun hatten, war der Besuch der Christenlehre ein bewusstes Bekenntnis. Und das war nicht erwünscht. Es gab in der DDR viele Menschen, die in die Ost-CDU eingetreten sind, um Ruhe vor Fragen zu haben. Sie taten es auch, um einmal deutlich zu bekunden: Ja, wir sind Christen.

Wir haben gelesen, dass Sie in die Freie Deutsche Jugend eingetreten sind, und es wurde geschrieben: mit Freude. Die haben Ihre Bude tapeziert und haben Ihnen geholfen, nach der Trennung von Ihrem ersten Mann irgendwie mit der Situation klar zu kommen.

Merkel: as war nicht die FDJ, sondern Leute, die ich von daher kannte. Eine solche Hilfe hatte ja nun wirklich keinen politischen Hintergrund.

Das hatten wir nicht angenommen.

Merkel: In die FDJ bin ich viel früher eingetreten. Nach dem Studium gab es an dem wissenschaftlichen Institut, in dem ich gearbeitet habe, eine FDJ-Gruppe. Wir gingen gemeinsam ins Theater und hatten hin und wieder gemeinsame Veranstaltungen. Während des Studiums und für die Promotion musste man zum Marxismus-Leninismus-Unterricht und dort immer wieder die ganzen Phrasen durchgehen. Aber es gab wie immer unter jungen Menschen auch freundschaftliche Beziehungen in der Gruppe, die mit dem Drill nichts zu tun hatten.

Drei meiner Kinder haben die Oberstufe hinter sich – ohne eine Stunde DDR-Geschichte. Muss man nicht mehr machen, um unsere Jugendlichen stärker an diesen Teil der deutschen Vergangenheit heranzuführen?

Merkel: Wir haben viele Zeitzeugen, die darüber sprechen können. Jenseits des normalen Lehrplans, in dem die DDR zwischen Antike und Gegenwart nur wenig Platz findet, müssen wir einfache lebendige Zugänge ermöglichen. Schulen können Zeitzeugen einladen, nach Hohenschönhausen fahren, wie die Klasse, die ich dort getroffen habe, sich um Partnerklassen in den neuen Bundesländern bemühen. Oder Klassenfahrten von West nach Ost und von Ost nach West organisieren.

Ihr Kabinettskollege Tiefensee wirft Ihnen freundlicherweise vor, dass Sie Ihre DDR-Erfahrung bei politischen Entscheidungen bewusst in den Hintergrund treten lassen.

Merkel: Ich verstehe nicht, was er damit meint, zumal das zwei Tage nach meinem Besuch in Hohenschönhausen war. Das müsste er selbst beantworten.

Gehen wir Deutschen selbstbewusst genug mit der Leistung um, die DDR integriert und wirtschaftlich aufgebaut zu haben?

Merkel: Das war und ist eine großartige Leistung, die in der Welt sehr anerkannt wird. Man sieht, was das tiefe Zusammengehörigkeitsgefühl einer Nation bewirkt, die beim Fall der Mauer nicht gefragt hat, wie viel Solidarität kostet, sondern gehandelt hat. Die Ostdeutschen haben schwierige Phasen und Strukturbrüche erlebt. Viele mussten für die Misswirtschaft der DDR persönlich bezahlen. Wer etwa in der Landwirtschaft arbeitslos wurde, konnte nicht einfach als Ingenieur bei Siemens anfangen. Aber die übermächtige Freude über die deutsche Einheit hat den Prozess stabilisiert. Darauf können wir stolz sein. Mit diesem Gedanken an die Kraft unseres Landes werden wir auch die internationale Wirtschaftskrise nicht nur überstehen, sondern stärker aus ihr hervorgehen, als wir in sie hineingekommen sind.

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