Essen. Das Klagen über die geringe Wahlbeteiligung bei der Europawahl ist groß. Ein Grund: Politiker haben ein Imageproblem. Jetzt suchen sie nach Auswegen - verlangen nach einer Wahlpflicht. Gleichwohl sollten sie sich an die eigene Nase fassen. Auch die Politik hat zum Desinteresse beigetragen.
Jetzt jammern sie wieder. Jetzt, da es zu spät ist. Die Stimmen sind ausgezählt. Das Ergebnis der Europawahl liegt vor. Und Politiker jeglicher Couleur beklagen wortreich die erneut miserable Wahlbeteiligung. Eine Gefahr für die Demokratie sei es, wenn das Volk seine Vertreter nicht mehr bestimmen will. Das ist ja auch nicht falsch. Aber was die Politiker nicht sagen: Ihre Branche hat nicht unerheblich dazu beigetragen, dass sich immer mehr Bürger von der Politik abwenden. Und dieser Vorwurf gilt für Regierungen quer durch Europa, wie ein Überblick beweist.
England. In Vereinigten Königreich, das sich selbst gern als Geburtsstätte der parlamentarischen Demokratie feiert, torkelt die Labour-Regierung unter Premierminister Gordon Brown seit Wochen ihrem unabwendbaren Ende entgegen. Minister, die dreist für private Anschaffungen stapelweise Spesenbelege abrechneten, mussten zurücktreten.
Anwälte kreieren zu Berlusconis Schutz Gesetze
Italien. Ministerpräsident Silvio Berlusconi lässt sich die Gesetze, die ihn vor Anklagen schützen, von seinen Anwälten zimmern, die er selbst als Abgeordnete ins Parlament gehievt hat und sorgt ansonsten vor allem mit seiner Vorliebe für junge Frauen für Schlagzeilen.
Frankreich. Der selbstherrliche Regierungschef Nicolas Sarkozy macht eine Ministerin, die von der Vorzeige-Frau zur Belastung für seine Administration geworden war, zum Aushängeschild für die Europawahl; und dies, obwohl die Ministerin, Rachida Dati, öffentlich erklärte: „Europa kümmert sich um das, was wir ihm überlassen.”
All das schürt nicht eben die Lust am Wählen. Und die Liste ließe sich fortsetzen. In Nordrhein-Westfalen etwa hat der gerade erst wegen einer Tempoaffäre zurückgetretene Bauminister ungeniert erklärt, er werde sein Wissen künftig auch in die Dienste eines Bau-Unternehmers stellen. Das gehe ganz locker neben dem Abgeordneten-Job.
Sind also die Politiker selbst Schuld, wenn sie keiner mehr wählen will? Das wäre dann doch ein bisschen zu billig. Und hilft außerdem nicht weiter.
Denn: Gerade w e i l es viele Politiker zu toll treiben, wird der Wahlgang für den mündigen Bürger zur Pflicht. Und dies ist wörtlich zu nehmen: Wir brauchen eine Wahlpflicht!
In vier europäischen Ländern wurde bei der Europawahl am Wochenende mit solch einer Wahlpflicht abgestimmt, nämlich in Belgien, Griechenland, Luxemburg und Zypern. Die Wahlbeteiligung lag hier zwar nicht bei einhundert Prozent, aber weit über dem europäischen Durchschnitt.
Enthaltung ist keine Form der Demokratieteilhabe
Was eine Wahlpflicht hierzulande brächte? Der Wahlbürger könnte sich für sein Desinteresse am Urnengang nicht mehr herausreden mit denen „da oben”, die ja doch „machen was sie wollen”, egal wie das Volk entscheidet. Der Souverän, der Wähler also, wäre gezwungen, sich mit seiner Wahl auseinanderzusetzen. Zumindest wäre auf diese Weise die Wahrscheinlichkeit eines wohlüberlegten Umgangs mit der Wahlstimme größer. Wahlenthaltung ist letztlich doch keine Form der Demokratieteilhabe, auch wenn dies gelegentlich so dargestellt wird.
Hand aufs Herz, liebe Nichtwähler: Sind es wirklich die Eskapaden der Minister oder Abgeordneten, die Sie vom Wahllokal fernhalten? Ist es wirklich der Abscheu vor den Manieren und Machenschaften der Politik-Branche, die Sie die Wahlbenachrichtigung in den Papierkorb werfen lassen? Ist es wirklich die Abgehobenheit der vorgeblichen Volksvertreter, die Sie davon abhält, sich mit politischen Inhalten näher zu befassen? Oder sind dies letztlich nicht doch ebenso willkommene wie vorgeschobene Ausreden für den wirklichen Grund namens Bequemlichkeit?
Wer wählen gehen muss, schaut im Zweifelsfall genauer hin, bei wem er sein Kreuzchen macht. Und so soll es schließlich sein in der Demokratie.