Düsseldorf. Zum Jahresende ziehen Kita-Träger, Städte und Eltern eine bittere sozialpolitische Bilanz. Ohne Nothilfe des Landes drohe der Kollaps.

Zum Jahresende 2023 warnen die NRW-Städte, Wohlfahrtsverbände und der Landeselternbeirat vor einem möglichen Kollaps vieler sozialer Angebote. „Der sozialen Infrastruktur steht das Wasser bis zum Hals. In Kitas, im Ganztag, in Pflegeeinrichtungen und bei der Sozialberatung spitzt sich die Lage dramatisch zu“, sagte Christian Woltering, Vorsitzender der Freien Wohlfahrtspflege NRW, am Montag im Landtag.

Durch hohe Tarifabschlüsse und Personalmangel seien in NRW etwa 1000 Kitas der Freien Wohlfahrtspflege, die rund 60.000 Kinder betreuten, finanziell so in Not, dass 2024 Einschränkungen bei der Betreuung oder sogar Schließungen drohten. In NRW gibt es insgesamt rund 10.500 Tageseinrichtungen für Kinder. Zwischen der Summe, die die Kitas zum Überleben benötigten und dem, was sie 2024 vom Land erhalten sollen, klaffe eine Lücke von 400 Millionen Euro, so Woltering.

Bleiben die größten Sozialproteste in der NRW-Geschichte wirkungslos? Das befürchten Wohlfahrtverbände und viele Familien.  Im Oktober 2023 demonstrierten rund 25.000 Menschen vor dem Landtag. Motto: „NRW bleib sozial!“
Bleiben die größten Sozialproteste in der NRW-Geschichte wirkungslos? Das befürchten Wohlfahrtverbände und viele Familien. Im Oktober 2023 demonstrierten rund 25.000 Menschen vor dem Landtag. Motto: „NRW bleib sozial!“ © dpa | Rolf Vennenbernd

Auch die kommunalen Spitzenverbände in NRW forderten am Montag das Land auf, kurzfristig weitere „Überbrückungshilfen“ für die Finanzierung der Kitas bereitzustellen. „Sonst wird sich die Not vieler Träger 2024 weiter verschärfen“, warnten Helmut Dedy (Städtetag NRW), Martin Klein (Landkreistag NRW) und Christof Sommer (Städte- und Gemeindebund NRW). Die Landesregierung müsse ihre Überbrückungshilfe von 100 Millionen Euro auf 200 Millionen Euro verdoppeln, um die Zahlungsfähigkeit vieler Kita-Träger wieder herzustellen.

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Die akute finanzielle Schieflage der Kitas ist nach Auskunft der Träger damit zu erklären, dass Kostensteigerungen, zum Beispiel für höhere Tariflöhne, erst mit eineinhalbjähriger Verspätung angepasst würden. Diese Finanzlücke müssten Verbände wie Caritas, Diakonie, Arbeiterwohlfahrt der Paritätische, das Rote Kreuz und die Jüdischen Gemeinden zunächst selbst stopfen.

Laut Daniela Heimann vom Landeselternbeirat führe der Personalmangel in den Kitas dazu, dass „Eltern ihren eigenen Verpflichtungen im Alltag nicht mehr verlässlich nachkommen können“. Manche Mütter oder Väter müssten ihre Arbeitszeit verkürzen oder sogar ihre Jobs aufgeben. Es gebe inzwischen Kitas mit „Wechselmodellen“. Dort könnten Kinder nur jeden zweiten Tag kommen. Eine „Zumutung“ sei das für Zwei- bis Sechsjährige“, kritisiert Heimann.

Die große Finanzierungslücke

Aus einer Umfrage durch die Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege geht hervor, dass rund 85 Prozent der befragten Kita-Träger schon für das Haushaltsjahr 2023 mit einem deutlichen Haushaltsdefizit rechnen, welches die finanzielle Lage des Trägers „existentiell angreife“. Der derzeitige Fehlbetrag im System, den die Träger finanzieren müssen, betrage gegenwärtig mehr als 500 Millionen Euro. Die Landesregierung habe zum 1. Januar 2024 „nur“ eine Überbrückungshilfe in Höhe von 100 Millionen Euro angekündigt.

Pädagogin im Ganztag: „Ich trage eine Mordswut in mir“

Vergleichbar dramatisch sei die Lage im offenen Ganztag, warnte Linda Jaskowiak, Erzieherin in der offenen Ganztagsschule Horstschule in Herne. Der Ganztag sei finanziell und personell heute schon in einer „irren Schieflage“. Der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Erstklässler ab 2026 bringe das System noch weiter ins Rutschen, falls die Landespolitik nicht gegensteuere. Die landesweit größten Sozialproteste im Oktober vor dem Landtag mit rund 25.000 Teilnehmenden seien politisch fast wirkungslos geblieben. „Ich trage eine Mordswut in mir“, so Jaskowiak.

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