Essen. Vor 80 Jahren, an Weihnachten 1942, waren Zehntausende deutsche Soldaten in Stalingrad eingekesselt. Auch heute noch werden Massengräber entdeckt.
„Meine Lieben alle daheim! Unsere Lage ist immer noch unverändert. Daher weiß ich nicht, ob Ihr diesen Brief erhalten werdet und doch will ich es hoffen. Aber wie stark sind meine Gedanken und Wünsche, Geist und Herz in diesen hl. Tagen bei Euch gewesen ... Es bleibt unbeschreiblich und unvergeßlich, wie alle Soldaten mit Tränen in den Augen der hl. Handlung folgten, als ich ihnen in dieser hl. Nacht den Heiland reichte. Ich habe schon viele ergreifende Stunden bei Soldaten an der Front erlebt, aber nie durchlebte ich so tiefe, hl. Stunden, welche der hl. Nacht von Bethlehem so ähnlich waren.“
So schreibt der Kaplan Gustav Raab Ende Dezember 1942 per Feldpost an seine Familie in Mönchengladbach. Raab, Jahrgang 1905, ist seit Januar 1941 als Kriegspfarrer im Einsatz, als er mit der 6. Armee 1942 nach Stalingrad kommt, die dort am 19. November von den sowjetischen Truppen eingeschlossen wird. Rund 300.000 deutsche und verbündete Soldaten sitzen wie Raab in der Falle. Eine Million Rotarmisten haben den Kessel um die Wolgametropole geschlossen, bringen seitdem Hitlers Eroberungskrieg gegen die Sowjetunion zum Stillstand. Die Zeche für den Größenwahn des selbst ernannten Führers zahlen die Soldaten der 6. Armee. Jeden Tag sterben rund 1600 von ihnen – bei den Kämpfen oder durch Hunger, Kälte, Krankheit. Gustav Raab ist einer von rund 65.000 Toten von Stalingrad, derer die auf der deutschen Kriegsgräberstätte Rossoschka begraben liegen: inmitten des damaligen „Kessels von Stalingrad“, 37 Kilometer nordwestlich der Stadt , die seit 1961 den Namen Wolgograd trägt. „Auch 80 Jahren nach den Kämpfen um Stalingrad werden in der Gegend immer noch Gräber mit Kriegstoten entdeckt“, weiß Diane Tempel-Bornett vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge.
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So etwa im Jahr 2018, als Arbeiter bei der Verlegung einer Wasserleitung auf die Überreste von insgesamt mehr als 1837 Toten stießen. „Nur wenige von ihnen trugen noch die Erkennungsmarke der Soldaten“, so Tempel-Bornett, „und die meisten trugen auch keine Uniform.“ Sie schließt daraus, dass es sich in der Mehrzahl der Leichen um Tote aus einem Lazarett handelt. Trotzdem konnten etwa 30 Leichen noch identifiziert werden.
„Der Kreis schließt sich endlich“
Noch immer werden Gebeine von 5000 bis 10.000 deutschen Soldaten jährlich in Russland gefunden So kommt es auch 80 Jahre nach dem „Kessel von Stalingrad“ immer noch vor, dass Angehörige vermisster Soldaten Gewissheit erhalten über das Schicksal etwa eines Großvaters. Volksbund-Sprecherin Tempel-Bornett erinnert sich: „Erst vor wenigen Jahren konnten wir einen toten Soldaten aus einem Massengrab anhand seiner Erkennungsmarke identifizieren. Wir übergaben sie dessen inzwischen 84-jährigen Sohn.“ Der Mann habe erzählt, seine letzte Erinnerung an den Vater sei das Bild, als dieser nach der Einberufung am Bahnhof in den Zug stieg. Der Mann habe gesagt: „Jetzt kann ich beruhigt sterben, der Kreis schließt sich endlich.“ Der Volksbund betreut heute mehr als 200 Kriegsgräberstätten auf dem Gebiet der Russischen Föderation. Dort sind insgesamt 525.000 Tote bestattet. Hinzu kommen 24 Kriegsgräberstätten in der Ukraine.
Der Überfall Russlands auf das Nachbarland im vergangenen Februar hat auch die Arbeit des Volksbunds deutlich erschwert. „Bei den offiziellen Kontakten mit den russischen Behörden herrscht Einheit“, sagt Diane Tempel-Bornett. Auch der Volksbund hat sein Personal aus dem Büro in Moskau fast komplett abgezogen, nur der Büro-Chef ist noch vor Ort. Es gebe aber auch weiterhin direkte Kontakte zu den ehrenamtlichen Helfern.
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Schwierige Lage in der Ukraine
Wegen der Sanktionen gegen Russland habe zunächst die Sorge bestanden, dass die Fälle von Vandalismus auf den Kriegsgräberstätten zunehmen könnten. Tatsächlich habe es aber nur wenige Vorfälle gegeben, und die scheinen auch nicht politisch motiviert gewesen zu sein, heißt es. Besonders in Wolgograd aber sei die Stimmung gegenüber dem Volksbund frostig, Genehmigungen für Exhumierungen würden zäh oder gar nicht erteilt.
Besonders brisant ist die Lage in den umkämpften Gebieten in der Ukraine. Sechs der 24 Stätten sind derzeit für die Volksbund-Mitarbeiter vor Ort nicht erreichbar, die anderen 18 würden jedoch regelmäßig gepflegt. Auch in der Ukraine werden immer noch Gräber aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs entdeckt. Tempel-Bornett: „Vor wenigen Wochen fanden ukrainische Soldaten, die einen Schützengraben ausheben wollten, menschliche Überreste, die als dort verscharrte deutsche Wehrmachtssoldaten identifiziert werden konnten.“
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Wie geht es weiter, in Zeiten des Kriegs? „1992 wurde das Kriegsgräberabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Russischen Föderation unterzeichnet“, so Hermann Kraus, Leiter des Moskauer Volksbund-Büros. Das Abkommen gelte „als gegenseitige Verpflichtung, die Mahnung zum Frieden nicht zu vergessen“. 30 Jahre lang habe das gut funktioniert. Und nun? Krause: „Der Krieg in der Ukraine wird irgendwann vorbei sein. Wieder zueinander zu finden, wird Jahrzehnte dauern. Versöhnung beginnt zumeist auf den Friedhöfen, an den Gräbern der gefallenen Soldaten. Erst dort wird allen der Widersinn des Geschehenen deutlich.“
Gustav Raab, der Kaplan aus Mönchengladbach, findet in Stalingrad den Tod. Seine letzter erhaltener Feldpost-Brief datiert vom 2. Januar 1943, das Schreiben ist kurz gefasst: „Meine Lieben! Ich bin noch unverletzt. Wir halten zäh aus, bis uns Hilfe kommt. Hoffentlich habt Ihr Post von mir. Ich schreibe jeden Tag. Laß nicht nach in Beten u. Opfern. Es geht um Leben und Sterben...“
Gustav Raab, so wird sich viel später herausstellen, wird im Februar 1943 von einem sowjetischen Soldaten in der Gefangenschaft erschossen.
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Die Chronik der Kämpfe in Stalingrad
Im Winter 1942/43 ist es in Stalingrad kälter als minus 30 Grad. Der Angriff der Wehrmacht auf die russische Stadt endet in der Kapitulation der deutschen Truppen. Der Verlauf:
Mitte August 1942: Die 6. Armee der Wehrmacht unter General Friedrich Paulus startet die Offensive auf die nach Diktator Josef Stalin benannte Stadt – unterstützt von der 4. Panzerarmee.
13. September: Der Angriff auf den Stadtkern beginnt. Bis Mitte November erobert die Wehrmacht rund 90 Prozent Stalingrads.
19. November: Die Rote Armee beginnt im Nordwesten und im Süden eine zangenförmige Großoffensive.
22. November: Die gesamte 6. Armee sowie Teile der 4. Panzerarmee und verbündeter rumänischer Verbände sind eingeschlossen.
24. November: Auf Befehl Adolf Hitlers dürfen die deutschen Truppen unter keinen Umständen Richtung Westen ausbrechen.
12. Dezember: Die deutsche „Heeresgruppe Don“ beginnt einen Angriff, um die eingekesselten Verbände zu befreien. Aufgrund des sowjetischen Widerstands wird die Aktion nach neun Tagen abgebrochen.
8. Januar 1943: Die Rote Armee überbringt den eingekesselten Deutschen ein Kapitulationsangebot – es wird abgelehnt.
10. Januar: Die Sowjetunion beginnt ihren Generalangriff. Im Laufe des Monats werden die eingeschlossenen Wehrmachtssoldaten in einen nördlichen und einen südlichen Kessel geteilt.
31. Januar: Die Rote Armee erreicht das Hauptquartier der 6. Armee im Südkessel. Die Truppen kapitulieren, Paulus wird Kriegsgefangener.
1. Februar: Hitler erwartet, dass sich der Nordkessel „bis zum Letzten“ hält.
2. Februar: Auch die ausgezehrten deutschen Einheiten im Nordkessel ergeben sich und lassen sich gefangen nehmen.
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