An Rhein und Ruhr. Rund 44.400 Ausbildungsstellen sind in NRW unbesetzt. Gründe sind vielschichtig. Warum die Entwicklung nicht nur mit der Pandemie zusammenhängt.

Auszubildende gesucht! Für viele Arbeitgeber wird es immer schwieriger, junge Menschen für eine Ausbildung in ihrem Betrieb zu überzeugen. Ende Juli waren in NRW noch 44.422 Ausbildungsstellen unbesetzt, das waren 19,6 Prozent mehr als vor einem Jahr. Dem gegenüber standen 34.866 junge Bewerber. Vor zwei Jahren lag die Zahl der unbesetzten Ausbildungsplätze um 14,8 Prozent niedriger. „Ein Grund ist der demografische Wandel, der immer stärker spürbar wir“, sagt Matthias Wulfert, stellvertretender Geschäftsführer und Ausbildungsexperte der Niederrheinischen IHK. Im Kammerbezirk Duisburg, Kreis Wesel und Kleve sind aktuell noch 344 freie Stellen gemeldet.

„Der Wandel am Ausbildungsmarkt vollzieht sich schon seit einigen Jahren“, sagt Torsten Withake, Chef der Regionaldirektion NRW der Bundesagentur für Arbeit. Mittlerweile ist der Ausbildungsmarkt auf dem Weg vom Stellen- zum Bewerbermarkt. Aktuell kommen in Nordrhein-Westfalen auf 100 Lehrstellen rechnerisch noch 92 Bewerberinnen und Bewerber.

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Der NRW-Ausbildungsmarkt ist von starken regionalen Unterschieden geprägt. Die Relation von Ausbildungsplätzen zu Bewerbern spannt sich zwischen einem Verhältnis von 156 Stellen auf 100 Jugendliche im Münsterland bis zu 92 Stellen auf 100 Bewerber im Bergischen Land und Ruhrgebiet. Den in absoluten Zahlen höchsten Rückgang bei den Bewerbern gibt es im Rheinland. Hier haben sich bis Ende Juli 4,1 Prozent oder 1.354 Jugendliche weniger bei den Agenturen für Arbeit und Jobcentern gemeldet als ein Jahr zuvor.

Die Situation auf dem Ausbildungsmarkt sei aber nicht nur mit dem demografischen Wandel zu begründen, sagt der Wirtschaftssoziologe Gerhard Bosch. Vielmehr führe der verstärkte Ausstieg vieler Unternehmen aus der Tarifbindung dazu, dass sie nur schwer Nachwuchs finden. Bis Anfang der 90er Jahre seien 90 Prozent der Beschäftigten nach Tarif bezahlt worden. „Heute sind es noch knapp über 50 Prozent. Aber das wird nicht diskutiert. Stattdessen wird gesagt, dass Jugendlichen Geld nicht mehr wichtig ist, sondern mehr die Work-Life-Balance. Das ist eine absurde Diskussion“, sagt Gerhard Bosch.

Auch Matthias Wulfert von der IHK sieht mehr als einen Grund für die Ausbildungsmisere. Die Pandemie habe dazu beigetragen, dass die Ausbilder, Kammern und Agenturen für Arbeit den Kontakt zu den Jugendlichen verloren haben, dieser wieder mühsam aufgebaut werden müsse. Zum anderen habe sich aber auch über Jahre die Meinung festgesetzt: „Ohne Abitur bist Du nichts, und wenn Du nicht studierst, auch nicht.“ Die Ausbildung, so Matthias Wulfert, habe an Ansehen eingebüßt, „völlig zu Unrecht.“

Auch die Folgen der Corona-Pandemie deutlich auf dem Ausbildungsmarkt zu spüren. „Die Schulen waren immer unsere Plattform, um mit den Jugendlichen ins Gespräch zu kommen“, sagt Matthias Wulfert. Der stellvertretende Geschäftsführer der Niederrheinischen IHK weiß, dass der Bedarf nach persönlichen Kontakten gerade in der Berufsberatung groß ist. „Das läuft nicht über WhatsApp. Die jungen Leute wollen mit jemandem reden“, sagt Matthias Wulfert. Die Verunsicherung sei groß. Gerade Branchen, die vom Lockdown betroffen waren, haben Probleme, ihre Stellen zu besetzen. Das habe Spuren hinterlassen.

Bereits 2021 gab es in Duisburg und den Kreisen Kleve und Wesel mit 10.374 drei Prozent weniger Auszubildende als 2020. Betroffen waren vor allem kaufmännische Berufe in Industrie und Handel, bei Banken und Versicherungen, im Hotel- und Gaststätten,- sowie Verkehrs- und Transportgewerbe. Hier sank die Zahl der Ausbildenden um vier Prozent, in den gewerblichen Ausbildungsberufen wie der Metalltechnik, der Baubranche, Nahrung und Genuss oder Elektrotechnik dagegen nur um ein Prozent. Durch Ausbildungsmarketing und Ausbildungsbotschafter die wieder in die Schulen gehen, versuchen die Industrie- und Handelskammern diesem Trend entgegen zu wirken. „Eine abgeschlossene Ausbildung ist ein hochwertiger Abschluss“, betont Matthias Wulfert. Eine Ausbildung sei gleichwertig zu einer dualen Ausbildung oder einem Studium zu sehen. Dies müsse auch in der Gesellschaft Konsens werden.

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Angesichts dessen, dass es durch den demografischen Wandel immer weniger mögliche Kandidaten für eine Lehrstelle gibt, müssten die Arbeitgeber kreativer werden. „Es reicht heute nicht mehr aus, eine Annonce zu schalten“, sagt Matthias Wulfert. Ausbildungsmessen und Speeddatings seien Formate, die sich heute etabliert hätten und erstmals in diesem Jahr wieder seit Corona richtig möglich waren. „Der erste Kontakt kann ein richtiger Eisbrecher sein“, weiß Matthias Wulfert. Gerade für Jugendliche, die auf dem Papier nicht erste Wahl wären.

Bei den beliebtesten Ausbildungsberufen hat sich wenig verändert. Die Klassiker sind geblieben. Am beliebtesten sind bei den Jugendlichen auch in diesem Jahr Bürokauffrau/Bürokaufmann oder Kfz-Mechatroniker/-in – auch wenn in vielen Bereichen Angebot und Nachfrage nicht zusammen passen. So sucht die Industrie händeringend Interessierte für den Verkauf. Auf 14.000 offene Stellen kamen hier nur etwa 9.000 Bewerbungen landesweit.