An Rhein und Ruhr. Flughafen, Gastronomie, Pflege: Viele Branchen suchen Mitarbeiter, zugleich ist die Gesamtzahl der Beschäftigten gestiegen. Wie kann das sein?

Flugausfälle, verkürzte Öffnungszeiten in der Gastronomie, lange Wartezeiten auf Handwerker – in vielen Branchen fehlen Mitarbeiter, die Lage spitzt sich teilweise dramatisch zu. Und den Arbeitgebern fehlen Ideen, wie sie die Situation verbessern können. Das große Rätsel: Trotzdem steigt die Zahl der Beschäftigten. Zwei Jahre mit pandemiebedingter Kurzarbeit und Entlassungen haben auf dem Arbeitsmarkt Spuren hinterlassen. Der Flughafenverband ADV spricht von 20 Prozent fehlendem Personal, mehr als die Hälfte der Betriebe im Gastgewerbe sucht nach Angaben des Branchenverbandes Dehoga in NRW Vollzeitkräfte, 80 Prozent zudem Mini-Jobber. Einige Beschäftigte hätten den Branchen den Rücken gekehrt und seien zum Beispiel zu Testzentren, Lieferdiensten oder in die Transportbranche gewechselt – Bereiche, die in der Krise gewachsen sind.

Das zeigt eine Auswertung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, IAB. „Vielfach waren es junge Leute, die in den Branchen gejobbt haben“, erklärt Anja Knoblich, Sprecherin der Agentur für Arbeit in NRW.

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Und Lücken ließen sich innerhalb so kurzer Zeit nicht schließen, sagt IAB-Arbeitsmarktexperte Enzo Weber: „Wenn ich sowieso eine hohe Fluktuation habe, wie es sie in vielen Helferjobs in der Gastronomie oder auch in der Gepäckkontrolle am Flughafen oft gibt – und dann wieder aufmache, stehe ich vor dem Problem, dass ich so schnell die Leute nicht bekomme“.

„Eine Massenabwanderung hat es während der Pandemie nicht gegeben“

Vieles werde in der aktuellen Diskussion aber auch in einen Topf geworfen. Eine Massenabwanderung von Arbeitskräften habe es während der Pandemie nicht gegeben. „Unter dem Strich sind sogar weniger Jobs beendet worden als vor der Krise“, sagt Anja Knoblich. Dies wohl auch dank der Kurzarbeit.

In NRW ist die Zahl der versicherungspflichtigen Beschäftigten 2021 im Vergleich zum Vorjahr gar um 1,8 Prozent auf knapp 7,1 Millionen gestiegen, im Kreis Kleve um 1,2 Prozent auf 105.171 und im Kreis Wesel um 1,5 Prozent auf 141.370 (Stand: September 2021).

Fachkräfte fehlten nicht erst seit gestern in vielen Branchen, wie Burkhard Landers, Präsident der Niederrheinischen Industrie- und Handelskammer gestern beim IHK-Jahresgespräch erklärte. „Die Leute sind nicht weggelaufen. Wir hatten sie vor der Pandemie nicht und wir haben sie heute nicht“, sagt er auch mit Blick auf Branchen wie das Bäckerhandwerk.

Allein durch den demografischen Wandel würden die Branchen zwei Prozent ihrer Mitarbeiter pro Jahr verlieren. Hinzu komme die Ungewissheit, wie sich der Corona-Herbst entwickelt. Viele Firmen zögern deshalb – und aufgrund von Inflation - neu einzustellen, wie eine aktuelle Umfrage des Münchener Wirtschaftsinstituts ifo zeigt.

Viele Beschäftigte sind bei der Jobwahl wählerischer geworden

Und: Viele Beschäftigte sind bei der Jobwahl wählerischer geworden, das Angebot ist groß. Im Mai hatte die Zahl der offenen Stellen in Nordrhein-Westfalen mit 170.000 einen neuen Höchststand erreicht.

Dennoch: Der Arbeitskräftemangel wird für viele Branchen immer mehr zum Geschäftsrisiko. Die Gastronomie, Hotelbranche und auch privaten Sicherheitsdienste haben zwischen 2019 und 2021 über 20 Prozent der sozialversicherten Beschäftigten verloren.

Bei einer Umfrage unter Verbandsmitgliedern der IHKs in NRW gab mehr als jeder zweite Betrieb an, „dass er im Fachkräftemangel ein wirtschaftliches Risiko sieht“, sagt Burkhard Landers, Präsident der Niederrheinischen IHK. Viele Fachkräfte fehlten im IT-Bereich, in der Pflege und im Handwerk. Der demografische Wandel führe dazu, dass jedes Jahr in Deutschland mehrere Hunderttausend Menschen mehr in Rente gehen als Jüngere ins Berufsleben nachrücken. Das habe man bisher durch Zuwanderung ausgleichen können und dadurch, dass Frauen mehr arbeiten und Ältere länger. „Ohne Zuwanderung von Arbeitskräften in allen Hierarchien werden wir das Problem aber nicht lösen“, sagt Burkhard Landers.

Zudem müsse mehr in die innerbetriebliche Weiterbildung und in neue Berufsfelder investiert werden. „Wir reden über Wasserstofftechnologie, aber es gibt noch keinen Ausbildungsberuf für einen Wasserstofftechniker“, nennt Burkhard Landers nur ein Beispiel.

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Das Thema Bildung und Ausbildung sei nach wie vor eines der wichtigsten auf dem Weg zur Behebung des Fachkräftemangels. „In der Pandemie haben wir zehn Prozent der Azubis verloren, die sind lieber jobben gegangen. Das bringt denen vielleicht jetzt mehr Geld, aber nicht für die Zukunft“, sagt Burkhard Landers. 800 Lehrstellen sind im Kammerbezirk noch offen. Es gebe kaum Bewerbungen.

IHK-Präsident: „Wir brauchen mehr Praktiker“

Wichtig sei, dass berufliche Ausbildung gegenüber der akademischen als gleichwertig angesehen wird, eine Ausbildung habe aber für viele junge Menschen offenbar an Attraktivität verloren habe. „Wir brauchen aber Praktiker“, so Landers. Mit Blick auf den Koalitionsvertrag begrüßt die IHK, dass sich die neue Landesregierung zur „dualen Ausbildung“ bekennt. Allerdings lasse sie offen, „wie wir dem Fachkräftemangel begegnen wollen.“

Die Zuwächse an Beschäftigungszahlen seien gut. „Aber wenn wir eine Steigerung von 1,5 Prozent haben, reicht das womöglich nicht, um den Mangel auszugleichen“, sagt Andreas Henseler, stellvertretender Geschäftsführer der IHK zu Duisburg. Es gebe aber auch nicht die eine Antwort auf den Personalmangel. Ein Aspekt sei, dass die Ansprüche der Mitarbeiter an die Rahmenbedingungen und Arbeitszeiten gestiegen sind, gerade in der Pandemiezeit vor dem Hintergrund von Schul- und Kitaschließungen.