Dortmund/Bochum. Nach den tödlichen Polizei-Schüssen in Dortmund ermitteln Polizisten gegen Polizisten. Neutral kann das kaum sein, sagt ein Bochumer Kriminologe.
Nach dem Tod eines 16-jährigen Afrikaners durch fünf Schüsse aus einer Polizei-Maschinenpistole in einer Jugendhilfeeinrichtung in Dortmund am vergangenen Montag wird gegen den 29-jährigen Polizeibeamten ermittelt, der geschossen hat. Die Ermittlungen führt das benachbarte Polizeipräsidium Recklinghausen - aus „Neutralitätsgründen.“ Der Bochumer Polizeiforscher Prof. Tobias Singelnstein hält das für problematisch.
„Die notwendige Neutralität der Ermittelnden ist damit in NRW nicht gewährleistet“, sagt Singelnstein, Chef des Lehrstuhls für Kriminologie an der Ruhr-Universität Bochum, der in seinem jüngsten Buch „Die Polizei: Helfer; Gegner; Staatsgewalt“ als Co-Autor die strukturellen Probleme von Polizei beleuchtet. „Bundesländer wie Hamburg oder Bayern haben unabhängige Dienststellen für interne Ermittlungen, die sich gegen Polizeibeamte richten“, sagt Singelnstein: „Das wäre in NRW auch wünschenswert.“
Tödliche Schüsse in Dortmund: Einsatz-Ablauf "formal korrekt"?
So kommt es derzeit zu einer wohl kuriosen Situation: Beide Polizeibehörden - Recklinghausen und Dortmund - ermitteln jetzt wegen eines tödlichen Einsatzes gegen Beamte der jeweils anderen Behörde. So wird in Dortmund untersucht, wieso ein 39-jähriger mutmaßlicher Randalierer in einer Wohnung in Oer-Erckenschwick nach einem Polizeieinsatz am vergangenen Sonntag zu Tode kam.
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Das Geschehen in Dortmund wirft viele Fragen auf, die die Ermittler nun beleuchten müssen. „Die bisherigen Berichte fußen auf dem, was Polizei und Staatsanwaltschaft bisher zu dem Vorfall gesagt haben. Demnach sieht es so aus, als handle es sich formal um einen mustergültigen Ablauf des Einsatzes, der aber tödlich endete“, sagt Kriminologe Singelnstein. Doch dies müsse jetzt kritisch hinterfragt werden: Es gelte zum Beispiel zu klären, „was für ein ‚Setting‘ ist da gewesen, was es aus Sicht der Polizei notwendig gemacht hat, die Situation mit dieser Dringlichkeit zu klären?“
Hätten die Polizisten die Lage noch entschärfen können?
Dass die elf eingesetzten Polizeibeamten und -innen - mehrere davon erst am Anfang ihrer Polizeikarriere, wie die Staatsanwaltschaft Dortmund auf Anfrage bestätigte - womöglich so handelten, wie sie es in ihrer Ausbildung gelernt hätten, könnte sich als formal korrekt erweisen, meint Singelnstein, aber: „Die hier offenbar erfolgten Automatismen von Einsatzabfolgen können auch zum Problem werden“, mahnt Singelnstein. „Möglicherweise hätte es für die Polizisten doch noch Alternativen gegeben, hätte man die Eskalation noch abwenden können. Aber dazu kann man jetzt noch nichts sagen, dazu wissen wir noch viel zu wenig“, gibt er zu bedenken.
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Soweit bisher bekannt ist, hatten die Polizeibeamten erst versucht den psychisch stark gereizten und mit einem Messer bewaffneten 16-Jährigen mit Pfefferspray handlungsunfähig zu machen. Dann wurde ein Taser eingesetzt, angeblich zweimal. Doch das Elektroschockgeräte bewirkte offenbar, dass der Senegalese die Beamten angegriffen habe. Daraufhin schoss einer der Polizisten sechsmal mit seiner Maschinenpistole. Laut Innenministerium ermöglicht die bei der NRW-Polizei genutzte MP5 des Herstellers Heckler und Koch gezieltere Schüsse ohne Rückstoß, wie ihn die Dienstpistole Walther P99 beim Abdrücken zeige.
Pfefferspray macht Attackiert oft aggressiv
Singelnsteins Amtsvorgänger Prof. Thomas Feltes kritisierte am Mittwoch gegenüber der Deutschen Presse Agentur, das fatale Ende dieses Polizeieinsatzes sei absehbar gewesen: Pfefferspray und Taser hätten „oft nicht die erhoffte Wirkung“ und würden Attackierte gar noch wilder machen, zumal wenn sie psychisch gereizt seien. Zudem seien „solche Situationen“, laut Feltes, am ehesten „mit Worten beherrschbar.“ Doch der 16-Jährige soll kaum Deutsch gesprochen haben. „Wenn der Betroffene nichts versteht, ist ein Angriff programmiert“, meint Feltes.
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Hätten die Beamten vor Ort die Situation entschärfen können, gab es für sie Alternativen in ihrem Handeln? Das sind für Prof. Singelnstein einige der Fragen, die zu klären sein werden. Nach Auskunft der Staatsanwaltschaft Dortmund würden dazu nicht nur die elf Beamten und drei Zeugen aus der Jugendhilfeeinrichtung befragt. Man befrage auch Nachbarn und durchforste soziale Medien, ob es etwa Videobilder von dem Einsatz gebe, erklärte Oberstaatsanwalt Carsten Dombert auf Anfrage.
Kriminologe: Polizisten „nicht hinreichend ausgebildet“
Inwieweit auch „Bodycams“ der Polizeibeamten eingeschaltet waren, die Polizeibeamte im Wachdienst am Körper tragen, sei noch zu prüfen, sagt Dombert. Ersten Berichten nach seien sie ausgeschaltet gewesen. Was rechtlich korrekt wäre, in dem betreffenden Fall aber mindestens unglücklich aus Sicht der Ermittler: In NRW ist ein Bodycam-Einsatz nicht vorgeschrieben, wie in manch anderen Bundesländern bei bestimmten gefährlichen Einsätzen, erklärt Kriminologe Singelnstein. Polizeibeamte in NRW können die auf Brusthöhe befestigte Kamera an ihrer Uniform laut Polizeigesetz einschalten, „wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass dies zum Schutz von Polizeivollzugsbeamtinnen und Polizeivollzugsbeamten oder Dritten gegen eine konkrete Gefahr für Leib oder Leben erforderlich ist.“ Andere Bundesländer schreiben den Einsatz dagegen für bestimmte Situationen vor, etwa wenn Gewalt eingesetzt wird, sagt Singelnstein.
„Für die beteiligten Polizeibeamten und -innen sind solche Situationen herausfordernd und belastend“, sagt Singelnstein. „Für die Menschen, die auf diese Weise mit der Polizei in Kontakt kommen, gilt dies allerdings erst recht, zumal wenn sie sich in einer psychischen Ausnahmesituation befinden.“ Sollten die Ermittlungen ergeben, dass die polizeilichen Abläufe bei derartigen Einsätzen zu verändern sind, wäre es aus Singelnsteins Sicht „wünschenswert, dass die Polizei in NRW daraus Lehren zieht.“
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Eine Empfehlung hat der Kriminologe unterdessen schon: „Das Hinzuziehen von Psychologen bei Einsätzen mit Personen in psychischen Ausnahmesituationen wäre absolut sinnvoll, weil Polizisten für den Umgang mit solchen Situationen nicht hinreichend ausgebildet sind.“