Berlin. Kanzlerkandidat und Finanzminister Olaf Scholz kündigt neue Corona-Schulden an – und erklärt, wie er die Bundestagswahl gewinnen will.

Olaf Scholz mag die Langstrecke. Seit 45 Jahren ist er in der SPD, die ihn früh als Kanzlerkandidaten ausgerufen hat. Hält er den Spannungsbogen bis zum Herbst 2021? Im Gespräch, das unsere Redaktion gemeinsam mit der französischen Partnerzeitung „Ouest-France“ geführt hat, zeigt er sich trotz mäßiger Umfragen zuversichtlich.

Herr Scholz, vor neun Monaten wollte die Partei Sie als GroKo-Gesicht nicht zum Chef machen – jetzt sollen Sie als Kanzlerkandidat die SPD nach der Wahl in ein Linksbündnis führen. Können Sie verstehen, dass manche da nicht mehr mitkommen?

Olaf Scholz: Ich kann helfen. Unsere Partei war vor einem Jahr in einer schwierigen Verfassung. Seither haben wir uns Stück für Stück aus der Lage herausgearbeitet und neues Vertrauen ist entstanden. Deshalb findet meine Nominierung zum Kanzlerkandidaten durch die Vorsitzenden, das Präsidium und den Vorstand in der SPD, so mein Eindruck, sehr viel Unterstützung. Das ist gut und auch notwendig, um Kanzler zu werden.

Nehmen wir mal an, Sie schaffen es ins Kanzleramt. Wer ist dann Koch und wer ist Kellner in der SPD, Frau Esken oder Sie?

Scholz: Ach, ich halte wenig von solchen Kategorien, wir sind ein Team. Als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland werde ich im Auftrag der Bürgerinnen und Bürger handeln, damit unser Land eine gute Entwicklung nimmt.

Wie viel Prozent sind drin?

Scholz: Wir wollen deutlich über 20 Prozent erreichen, denn ich will als Kanzler die nächste Regierung führen. In Dänemark, Schweden und Finnland regieren Sozialdemokraten mit ähnlichen Ergebnissen.

Die Linkspartei ist gegen die Nato, hat ein Problem mit Europa. Wie soll da eine Koalition funktionieren?

Scholz: Bundestagswahlen sind nicht dazu da, zu ermitteln, wer der nächste Koalitionspartner von CDU/CSU wird. Ich glaube, dass die Union nach so vielen Jahren auf die Oppositionsbank gehört.

Das wird Ihr Regierungspartner zur Kenntnis nehmen. Zurück zur Linkspartei, bitte.

Scholz: Ich habe eine sehr klare Haltung: Wer regieren will, muss regierungsfähig sein. Dieses Land braucht eine seriöse Regierung, die vernünftig mit Geld umgeht und dafür sorgt, dass die Wirtschaft läuft und wir gute Arbeitsplätze haben. Und die die Sicherheit unseres Landes gewährleistet, auch im Rahmen unseres Verteidigungsbündnisses der Nato und in einem starken Europa. Bis zur Wahl wird sich zeigen, wer mit uns dieser Meinung ist.

SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz im Foyer des Bundesfinanzministeriums in Berlin.
SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz im Foyer des Bundesfinanzministeriums in Berlin. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Die FDP läuft sich für eine Ampelkoalition warm. Ist so ein Bündnis im Bund in sozialliberaler Tradition für Sie denkbar?

Scholz: Ich bin ganz froh, dass mit der Klarheit, die wir als SPD zeigen, die anderen Parteien nun darlegen können, wofür sie stehen. Der ein oder andere PR-Move ist da noch keine politische Strategie. Es erinnert sich ja kaum noch jemand daran, dass es 1972 eine sozialliberale Koalition war, die das Betriebsverfassungsgesetz im Sinne der Betriebsräte und Arbeitnehmer modernisiert und 1976 die paritätische Mitbestimmung eingeführt hat. Ich glaube, dass die liberalen Schöpfer der Freiburger Thesen sich doch sehr wundern würden, dass heute das ganze Programm der FDP sich im Kern auf Steuersenkungen für Spitzenverdiener reduziert. Wer regieren will, muss auch regierungsfähig sein. Der Satz gilt auch hier.

Der größte Unterschied der SPD zu den Grünen in einem Satz …

Scholz: Ach, ich definiere mich nie in Abgrenzung zu anderen und rede nicht schlecht über andere Parteien. Ich spreche für die SPD.

Okay, was macht die SPD denn für Sie aus?

Scholz: Wir sind nicht bei den Leuten, die sich für etwas Besseres halten.

Kann Ihnen der Wirecard-Skandal gefährlich werden?

Scholz: Alles, was wir heute wissen, spricht dafür, dass hier mit hoher krimineller Energie Bilanzen manipuliert und Straftaten begangen worden sind. Die Münchner Staatsanwaltschaft ermittelt gegen die verantwortlichen Manager. Einige von ihnen sitzen in Untersuchungshaft. Natürlich ist es ein Problem, dass das bewährte System, das vor Bilanzbetrug schützen soll, in diesem Fall über Jahre überlistet worden ist. Die Wirtschaftsprüfer erhalten hohe Honorare, um zu ermitteln, ob die Bilanzen korrekt sind. Zehn Jahre lang haben sie bescheinigt, dass bei Wirecard alles in Ordnung sei – in Kenntnis all der öffentlichen Berichterstattung. Das müssen wir aufarbeiten.

Sie haben sich 2019 als Feminist bezeichnet. Was haben Sie für Frauen im Angebot?

Scholz: Bei meiner Nominierung habe ich drei Themen erwähnt: Ich möchte eine Gesellschaft, die von gegenseitigem Respekt geprägt ist. Ich stehe für ein Zukunftsprogramm, das die wichtigen technologischen und wirtschaftlichen Weichenstellungen vornimmt. Und ich möchte ein starkes und solidarisches Europa. Wenn ich über Respekt rede, rede ich auch über Anerkennung und gleich gute Löhne für Frauen. Es ist respektlos, dass die Gleichstellung von Männern und Frauen noch immer nicht gelungen ist. Das muss sich in Machtfragen niederschlagen. Wir streiten dafür, dass endlich mehr Frauen in Vorständen von großen Konzernen sitzen. Und wir werden eine Regierung bilden, die zur Hälfte aus Frauen und Männern besteht. Überdies hielte ich ein Paritätsgesetz für den Bundestag für echten Fortschritt.

Das ist Olaf Scholz

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    Wie wollen Sie Deutschland aus dieser historischen Rezession führen?

    Scholz: In der Corona-Krise haben wir viel Geld aufgebracht, um dabei zu helfen, die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger zu schützen und dafür zu sorgen, dass Wirtschaft wie Gesellschaft halbwegs heil durch diese Pandemie kommen. Deutschland war die erste größere Volkswirtschaft in Europa, die diesen großen und entschlossenen Schritt gegangen ist. Als Zweites habe ich durchgesetzt, dass wir ein Konjunkturprogramm auflegen, sobald der Lockdown zurückgefahren wird, um der Wirtschaft wieder Schwung zu verleihen – damit der Einschnitt bald wieder ausgeglichen werden kann. Drittens sind wir auf EU-Ebene einen neuen Weg gegangen und haben, ganz anders als bei der Staatsschuldenkrise 2010, gemeinsam mit Frankreich einen großen Wiederaufbaufonds vorgeschlagen, damit Europa zusammenhält und schnell wieder auf die Beine kommt. Alle drei Entscheidungen wirken gegen die Rezession. Ich hoffe, dass wir bis Ende nächsten Jahres oder Anfang 2022 das Vorkrisenniveau erreicht haben.

    Überlebt die Wirtschaft einen zweiten Lockdown?

    Scholz: Die Bundesregierung tut alles dafür, dass es dazu nicht kommt. Ich habe sehr bewusst von einer neuen Normalität gesprochen. Solange das Virus uns alle auf der Welt bedroht, solange wir keinen Impfstoff, keine Therapien haben, so lange werden wir vorsichtig und vernünftig bleiben müssen – und dazu gehören Abstandhalten, Hygiene-Vorschriften und die Nutzung von Alltagsmasken.

    Im September gibt es eine Sondersteuerschätzung, Sie stellen dann den Haushalt 2021 auf. Sind noch mehr Schulden nötig?

    Scholz: Davon ist auszugehen angesichts der Entwicklung. Auch im nächsten Jahr sind wir gezwungen, noch die Ausnahme von der Schuldenregel zu ziehen und erhebliche Mittel aufzuwenden, um die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger zu schützen und die Wirtschaft zu stabilisieren. Eins ist ganz klar: Wir halten in der Krise entschlossen gegen.

    Ist ein Mindestlohn von zwölf Euro Pflicht für jeden Koalitionsvertrag?

    Scholz: Ja, die zwölf Euro müssen sein. Ich sprach bereits von Respektgesellschaft – auskömmliche Löhne gehören dazu, sonst treibt unsere Gesellschaft auseinander. Ich halte es für dringend erforderlich, dass wir die Lohnuntergrenze anheben. In unserem Land gibt es eine große Zahl von Jobs, in denen jene, die schwere körperliche Arbeit leisten, nicht fair bezahlt werden.

    Was werden Sie für „Corona-Heldinnen“ an der Kasse und in der Klinik tun? Die sind von der Politik bitter enttäuscht.

    Scholz: Die Corona-Heldinnen erwarten zu Recht nicht nur warme Worte und einen einmaligen Zuschuss, sondern ordentliche Tarifgehälter, sichere Arbeitsplätze und zusätzliche Kolleginnen und Kollegen, weil viele mit der Arbeit schlicht nicht mehr hinterherkommen. Das gilt für die Pflege, den Handel, die Logistik oder die Fleischindustrie. Das muss sich ändern, und das werde ich angehen als Bundeskanzler.

    Hat die Vier-Tage-Woche eine Chance?

    Scholz: Das ist die Sache von Arbeitgebern und Gewerkschaften. In Branchen, die vor großen Umbrüchen stehen und finanziell in der Lage sind, eine Vier-Tage-Woche mit einem gewissen Lohnausgleich einzuführen, scheint mir die Idee der IG Metall sehr erwägenswert.

    Und ein bedingungsloses Grundeinkommen, ist das ein Modell der Zukunft?

    Scholz: Nein, das habe ich nie für richtig gefunden. Das wäre Neoliberalismus. Und wenn man fair und richtig rechnet, ist das auch unbezahlbar. Das würde viele Errungenschaften des Sozialstaates wie die Renten- oder die Arbeitslosenversicherung gefährden.

    Sie sagen, ein Kanzler muss Herz haben ...

    Scholz: Es wird zu Recht geguckt, kann jemand mit Krisen umgehen, ist er entschlossen genug. Das muss ein Kanzler können. Aber jeder einzelne Bürger muss auch das Gefühl haben, dass Politik für ihn gemacht wird. Das kann man nur erreichen, wenn man ein gutes Herz hat. Davon bin ich überzeugt.

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