Berlin. Angesichts steigender Corona-Infektionszahlen in Deutschland warnen Politiker und Ökonomen vor einem weiteren landesweiten Stillstand.

„Einen zweiten Lockdown überleben wir nicht.“ Das ist der Satz, den nicht nur Einzelhändler, Familienbetriebe und Großunternehmen im Kopf haben – angesichts der neuerdings wieder gefährlich hohen Infektionszahlen. Ein zweiter Lockdown wäre eine Kata­strophe für fast alle Deutschen: für Kinder und Eltern, die wieder unter geschlossenen Kitas und Schulen leiden müssten.

Aber auch für das öffentliche Leben insgesamt, für die Sozialkassen, für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die Angst davor wächst. Denn: Die Zahl der Infektionsherde steigt – im niederrheinischen Kreis Kleve etwa steckten sich gerade mehr als 50 Partygäste mit dem Virus an.

Als Reaktion auf die Hotspots kehren die ersten Regionen in Deutschland und Europa wieder zu strengen Corona-Regeln zurück, auch zu ersten lokalen Lockdowns. Führende Wirtschaftsvertreter sind alarmiert – und warnen vor einem neuen landesweiten Stillstand. Lesen Sie hier: Schule und Corona: Das sind die Regeln in den Bundesländern.

Wann kann ein Lockdown verhängt werden?

Im Mai hatten sich Bund und Länder darauf geeinigt, dass es neue Beschränkungen gibt, wenn in einem Landkreis die Anzahl der Corona-Neuinfektionen den Grenzwert von 50 pro 100.000 Einwohner in den vergangenen sieben Tagen übersteigt. Bayern hatte den Grenzwert sogar auf 35 Neuinfektionen herabgesetzt. „Verschlechtern sich die Zahlen, wird wieder zurückgefahren“, kündigte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) an.

Zuletzt erlebten die Landkreise Gütersloh und Warendorf einen Corona-Lockdown. Hier waren zuvor mehr als 1000 Mitarbeiter des Fleischverarbeiters Tönnies positiv auf das Corona-Virus getestet worden. Bundesweit warnt das Robert-Koch-Institut angesichts steigender Fallzahlen vor einer erneuten Zuspitzung der Lage: „Eine weitere Verschärfung der Situation muss unbedingt vermieden werden.“ Am Freitag meldete das RKI 870 neue Corona-Fälle innerhalb eines Tages, am Donnerstag lag der Zuwachs bei 902 Fällen.

Hintergrund: Zweite Corona-Welle? Behörden kommen nicht hinterher

Neue Corona-Beschränkungen: Diese Regionen sind betroffen

Wegen stark gestiegener Corona-Neuinfektionen hat die Stadt Heide in Schleswig-Holstein wieder strengere Schutzmaßnahmen eingeführt: Im öffentlichen Raum gilt seit Freitag in Heide wieder die Regel, dass sich maximal zwei Personen aus unterschiedlichen Haushalten treffen dürfen. Diese Einschränkung gilt auch für öffentliche und private Veranstaltungen in der Dithmarscher Kreisstadt.

Auch im wenige Kilometer entfernten Tourismusort Büsum an der Nordsee gelten seit Freitag strengere Beschränkungen – unter anderem eine Maskenpflicht in der Fußgängerzone. Laut RKI hatte es im Kreis Dithmarschen bis dahin 26,3 Fälle pro 100.000 Einwohner gegeben.

Alarmiert ist auch die Region um Schwäbisch Gmünd: Nach einem Corona-Ausbruch im Anschluss an eine Trauerfeier wächst im gesamten Ostalbkreis die Besorgnis. Quarantäneregeln wurden verschärft, die Maskenpflicht ausgeweitet.

Hintergrund: Immer mehr Corona-Fälle – RKI gibt deutliche Warnung heraus.

Belgien und England sind auch betroffen

Europaweit sind das keine Einzelfälle: Wegen stark steigender Coronavirus-Fallzahlen hat die belgische Provinz Antwerpen eine nächtliche Ausgangssperre eingeführt, die Maskenpflicht verschärft und Kontaktsport weitgehend verboten. Antwerpens Bürgermeister Bart De Wever spricht von einem „Lockdown light“.

In ganz Belgien gibt es wieder verschärfte Kontaktbeschränkungen – genauso wie in Nordengland, wo Millionen Menschen im Großraum Manchester betroffen sind. Im österreichischen Sankt Wolfgang ist nach einem Corona-Ausbruch die Sperrstunde vorverlegt worden.

WHO warnt vor weltweit neuen Corona-Hotspots.

weitere Videos

    Welche wirtschaftlichen Folgen hätte ein erneuter Lockdown?

    Der erste Lockdown hat die deutsche Wirtschaft bereits in die schwerste Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg geführt. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) war im zweiten Quartal nach erster Schätzung des Statistischen Bundesamtes um 10,1 Prozent abgesackt, mit einem 130 Milliarden Euro schweren Konjunkturpaket versucht die Bundesregierung, die Wirtschaft zu stützen.

    Doch ein zweiter Lockdown wäre wohl insbesondere für viele kleine und mittlere Unternehmen verheerend. „Auch wenn lokale Ausbrüche zu partiell erhöhten Infektionszahlen führen, darf daraus kein zweiter Shutdown entstehen“, warnt Mittelstandspräsident Mario Ohoven gegenüber unserer Redaktion. Die Bundesregierung habe ihr Pulver bereits verschossen. „Es wäre unverantwortlich, die deutsche Wirtschaft durch einen weiteren Lockdown in den Ruin zu treiben“, so Ohoven.

    Wirtschaft wird sich nur ohne Lockdown schnell erholen

    Die Ökonomin Veronika Grimm, Mitglied im Sachverständigenrat, warnt vor einer lang anhaltenden Wirtschaftsschwäche, sollte es zu einem weiteren Lockdown in Deutschland kommen. „Für die Erholung der Wirtschaft ist es entscheidend, dass ein erneut dynamisches Infektionsgeschehen oder eine zweite Corona-Welle nicht mit Einschränkungen beantwortet wird, die die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aktivitäten in ihrer ganzen Breite treffen“, sagte Grimm unserer Redaktion.

    Es müsse gelingen, regionales Infektionsgeschehen mit maßgeschneiderten Konzepten regional und zielgerichtet zu bekämpfen. Sollte dies nicht gelingen, so die Wirtschaftsweise, sei mit einer deutlich länger anhaltenden Schwächephase zu rechnen.

    Haselhoff: „Einen zweiten Lockdown können wir uns nicht leisten“

    Auch Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff mahnt eindringlich: „Einen zweiten Lockdown können wir uns nicht leisten. Das würde unsere Wirtschaft kaum verkraften und sich letztendlich auch negativ auf den Sozialstaat und seine Stabilität auswirken.“

    Hilfsmaßnahmen wie im jetzigen finanziellen Rahmen ließen sich wohl nicht wiederholen, sagte der CDU-Politiker unserer Redaktion. Beim Aufflammen neuer Infektionsherde müsse „schnell, niederschwellig und differenziert auf lokaler Ebene“ reagiert werden.

    Lässt sich ein erneuter Lockdown verhindern?

    Das kann derzeit niemand sagen. Helmut Dedy, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages, ruft deswegen dazu auf, eine zweite Infektionswelle möglichst lange hinauszögern. „Ein zweiter großer Lockdown für unser ganzes Land würde uns alle treffen und sicher zu einem weiteren Wirtschaftseinbruch führen. Deshalb muss alles getan werden, dass es so weit nicht kommt.“

    Aktuell bleibe es richtig, lokale Corona-Ausbrüche schnell und möglichst kleinräumig einzudämmen. „Diese Strategie müssen wir so lange wie irgend möglich fortsetzen, um einen größeren Lockdown zu vermeiden, der ein ganzes Bundesland oder die ganze Republik erfasst.“

    Mehr zum Thema Corona