Essen. Während die Kriminalität in NRW auf einem Rekordtief ist, steigt die Zahl der erfassten Sexualstraftaten. Warum das eine gute Nachricht ist.
Landesweit ist die Zahl der Vergewaltigungen und sexuellen Nötigungen im vergangenen Jahr um 2,7 Prozent gestiegen. „Immer mehr Opfer sexueller Gewalt trauen sich, ihren Fall bei der Polizei anzuzeigen“, wertet Kriminologe Christian Pfeiffer diese Steigerung in der Kriminalstatistik als Erfolg: „Täter können heute nicht mehr darauf hoffen, ungeschoren davon zu kommen.“
Pfeiffer überrascht die Steigerung auf landesweit 2282 Fälle kaum: „Speziell Nordrhein-Westfalen hatte im vergangenen Jahr mehrere Aufsehen erregende Fälle, die das Thema der sexuellen Gewalt in den Fokus gerückt haben, beispielsweise mit den Verbrechen auf einem Campingplatz in Lügde.“
Mediale Präsenz und Veränderung des Strafrechts führen zu mehr Anzeigen
Auch interessant
Die mediale Präsenz ermutige Opfer sexueller Gewalt, ihren Fall zur Anzeige zu bringen. Diese Entwicklung lasse sich seit dem Bekanntwerden des sexuellen Missbrauchs am Berliner Canisius-Kolleg Ende 2010 beobachten, so Pfeiffer: „Die Anzeigebereitschaft hat sich seither verdreifacht.“ Das sei gesellschaftlichen Debatten ebenso zu verdanken wie einer besseren Polizeiarbeit bei dem Thema. Nicht zuletzt aber hätten die Änderungen im Sexualstrafrecht mehr Opfer ermutigt, Delikte wie eine Vergewaltigung anzuzeigen.
Unter den Eindrücken der Kölner Silvesternacht war Ende 2016 das neue Gesetz in Kraft getreten. War zuvor rein rechtlich für eine Vergewaltigung die Androhung von Gewalt notwendig, so gilt seither der Grundsatz „Nein heißt Nein“.
Das habe auch in der Essener Frauenberatungsstelle einige Vergewaltigungsopfer ermutigt, zur Polizei zu gehen, weiß Diplom-Sozialarbeiterin Melanie Kessenich: So erzählt sie die Geschichte von Maja, einer 19-jährigen Essenerin, die eigentlich anders heißt. Über Tinder habe die junge Frau im vergangenen Jahr einen 21-Jährigen kennengelernt. Die beiden hätten sich verstanden, bei Maja zu Hause sei es zu einvernehmlichen Geschlechtsverkehr gekommen. „Als er ein weiteres Mal mit ihr schlafen wollte und sie das ablehnte, hat er sie vergewaltigt“, gibt die Sozialarbeiterin die Geschichte wieder. Die junge Frau sei wie gelähmt gewesen und habe sich erst niemandem anvertraut.
„Gut ein Drittel der Frauen hat den Täter bei der Polizei angezeigt“
„Zum Glück hat Maja eine gute Gynäkologin, die bei einer Ro utineuntersuchung einige Tage später leichte Verletzungen im Intimbereich feststellt und sie darauf anspricht. Die Frauenärztin hat Maja dann an uns verwiesen“, schildert Melanie Kessenich den Fall. In vier Beratungssitzungen habe die junge Frau anschließend abgewogen, ob sie ihren Peiniger anzeigt. „Dabei drängen wir keine Frau dazu. Wir beraten sie und zeigen Möglichkeiten auf“, betont die Sozialarbeiterin. Im Fall von Maja endet die Anzeige in einem Gerichtsprozess – der polizeibekannte Täter wird verurteilt.
Zur Wahrheit gehöre aber auch, dass viele Taten ungestraft bleiben, weiß Melanie Kessenich: „Die meisten Sexualstraftaten passieren im vertrauten Umfeld, innerhalb der Familie oder des Freundeskreises. Die Hemmschwelle, den Täter anzuzeigen, ist dann umso größer.“ Nicht zuletzt hielten das vergleichsweise geringe Strafmaß und die Furcht vor dem psychisch anstrengenden Gerichtsprozess viele Opfer von einer Anzeige ab. Von den 120 Frauen, die im vergangenen Jahr die Essener Beratungsstelle wegen sexueller Gewalt aufgesucht haben, habe sich ein Drittel für eine Anzeige entschieden.
„Hier sitzen auch Psychologinnen und Anwälte, die von ihrem Leid berichten“
Auch interessant
In nur einem Vergewaltigungsfall sei ein unbekannter Mann der Täter gewesen, weiß Kessenich: „Das widerlegt auch all die dummen Vorurteile, dass Migranten oder Flüchtlinge für die gestiegenen Fallzahlen verantwortlich sind.“ Sexuelle Gewalt ziehe sich vielmehr durch alle Gesellschaftsschichten: „Hier sitzen auch Psychologinnen und Anwälte, die von ihrem Leid berichten“, sagt Melanie Kessenich.
Sie begrüßt zwar, dass immer mehr Frauen den Mut finden und sich an die Beratungsstelle wenden. Aber: „So lange wir auf Spenden angewiesen sind und unser Personalschlüssel trotz mehr Beratungsfällen gleich bleibt, ist die Lage angespannt.“ So stiegen zwischen 2014 und 2018 die Fallzahlen im Bereich sexualisierter Gewalt auch in der Essener Beratungsstelle von nahezu 30 Prozent auf 120 Frauen. Auch die Düsseldorfer Beratungsstelle bestätigt diesen Trend. Gleichzeitig fehlten landesweit Plätze für Traumatherapien, die Wartelisten bei spezialisierten Therapeutinnen und Psychologinnen seien lang, weiß Melanie Kessenich, die vor allem einen Wunsch hat: „Wir müssen viel weniger über die Täter und mehr über die Opfer sprechen.“