Düsseldorf. . Die Kölner Nacht zum 1. Januar 2016 war ein schwarzer Freitag für Flüchtlingspolitik und die Willkommenskultur. Eine Rückschau auf „Silvester“.
Vielleicht ist es grausam, vielleicht heilsam. Ina Scharrenbach will bloß den Opfern eine Stimme geben. Deswegen ertönen jetzt vom Band die Notrufe dieser Nacht. Sirenen, Böllerschüsse, dazwischen die Stimmen der Angst: „Da stehen lauter Leute, und wenn man da durchläuft, dann begrapschen die einen und die langen einem unters Kleid, aber so richtig.“ Eine Frau wimmert, „die greifen mir unter das Kleid, und die Polizei macht nichts“.
Ein Mann ruft ins Mobiltelefon: „Hier ist der Ausnahmezustand.“ Köln, Silvesternacht 2015/2016, sie verfolgt Opfer, Polizei und Politik bis heute. Dass sich ein „zweites Köln“ ereignet, ist ausgeschlossen. Für den diesjährigen Stresstest ist die Polizei gerüstet, mehr Personal, bessere Ausrüstung. Köln wird diesmal der sicherste Ort in NRW sein.
Es sind auch die Scherben der Ausländerpolitik
Es sind 150 Zeugen gehört, 100 000 Aktenzeichen durchleuchtet, als die CDU-Abgeordnete Ina Scharrenbach im Oktober auf die Idee kommt, die Notrufe der Silvesternacht dem Untersuchungsausschuss des NRW-Landtags vorzuspielen. Im Parlament kehren sie zusammen, was zu Bruch ging. Es sind auch die Scherben der Ausländerpolitik.
Die Täter haben überwiegend einen Migrationshintergrund und folgen einem Muster, das aus Ägypten, dem Libanon und Syrien bekannt ist. Für gemeinschaftliche sexuelle Belästigung gibt es im Arabischen einen eigenen Begriff: „Taharrush gamea“. In Köln, aber auch in Hamburg, Stuttgart und Frankfurt ist das Phänomen schockierend neu.
Man kann den Verlauf der Kölner Nacht grob in zwei Phasen aufteilen. Bis 23.30 Uhr füllen sich der Bahnhofsvorplatz, Domtreppe und -platte. Die Menge wächst auf 1000 bis 1500 Menschen an, die Stimmung wird aggressiver. Es gibt Rangeleien, es wird viel geklaut, aber von sexuellen Übergriffen ist noch keine Rede. Die Polizei räumt den Vorplatz und Domplatte, noch ganz Herrin der Lage.
In Phase Zwei geraten Dinge außer Kontrolle
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Die Gewalttäter weichen Richtung Hauptbahnhof aus, Phase zwei. Hier geraten die Dinge außer Kontrolle. Bei der Bundespolizei sind erstmalig ab 1.44 Uhr sexuelle Übergriffe dokumentiert. Die Männer bilden am Bahnhofseingang Gassen, scheinbar, um Zutritt zu ermöglichen, aber dann schnappt die Falle zu: Frauen werden eingekesselt, bestohlen, bedrängt, begrapscht.
Nebenan auf der Brücke ist das Gedränge groß. Die Menge weicht auf die Gleise aus, die Bundespolizei muss den Verkehr sperren, ihre Kräfte sind an zwei Bahnsteigen gebunden. Erst um vier Uhr beruhigt sich alles. Rückblickend wird der Präsident der Bundespolizei, Dieter Romann, vor dem Aussschuss sagen: „Bis Null Uhr hat die Bundespolizei die Landespolizei unterstützt und ab Null Uhr die Landespolizei die Bundespolizei.“
Polizisten müssen gefasste Täter wieder laufen lassen
Im Ausschuss erzählen Frauen, wie Polizisten sie wegschicken oder lange warten lassen, bis ihre Anzeigen aufgenommen werden. „Dafür waren es einfach zu viele zur gleichen Zeit“, verteidigt sich ein Beamter. Polizisten müssen gefasste Täter wieder laufen lassen, um dem nächsten Opfer zur Hilfe zu eilen. Ihm sei eine Respektlosigkeit begegnet, „wie ich sie in 29 Dienstjahren noch nicht erlebt habe“, klagt ein Beamter.
1200 Anzeigen werden erstattet
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Romann nickt. Der Präsident der Bundespolizei sitzt im Büro in Potsdam und erinnert sich, „am 6. Januar waren die Beamten bei mir, teilweise mit Tränen in den Augen“. Nicht helfen zu können, sei mit ihrem Berufsethos nicht zu vereinbaren. „Das nagt an den Beamten bis heute.“ 67 Mann waren im Einsatz, doppelt so viele wie im Vorjahr – und doch nicht genug. „Wir waren blank“, sagt Romann. Ein Großteil seiner Leute ist an der Grenze, die zu Silvester von 3527 Flüchtlingen passiert wird. Gleichzeitig herrscht in München Terroralarm.
In Köln werden mehr als 1200 Anzeigen erstattet, gut 500 wegen sexuell motivierter Taten. In fast 400 Fällen konnte kein Verdächtiger ermittelt werden. Wegen sexueller Nötigung konnten sechs Männer verurteilt werden. Die „Beweislage“: Erinnerungslücken, verwackelte Videos.
Anruf kann nicht rekonstruiert werden
Die Anarchie dieser Nacht bestärkt die Kritiker der Flüchtlingspolitik. In Köln sei deutlich geworden, „welches Konfliktpotenzial wir uns ins Land holen“, sagt Ex-Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU). Dass es Tage brauchte, bis die Vorfälle öffentlich thematisiert wurden, habe „Verschwörungstheoretikern alle Türen geöffnet“.
In der Kölner Polizei heißt es, ein Anrufer aus der Landesleitstelle habe an Neujahr verlangt, das Wort „Vergewaltigung“ aus einer internen Polizei-Meldung zu streichen. Die sei ein „Wunsch aus dem Ministerium“. Der Anruf kann nicht rekonstruiert werden.
In der Pressemitteilung stand „entspannte Nacht“
Allein der Verdacht, im Namen einer falsch verstandenen Willkommenskultur solle das Wüten eines Migranten-Mobs verschwiegen werden, wiegt schwerer als alle Pannen. Der Eindruck, es solle über die ungeheuerlichen Übergriffe nicht gesprochen werden, war „mit das Schlimmste“, wird Bundeskanzlerin Angela Merkel Monate später sagen.
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In der Pressemitteilung der Polizei ist von einer entspannten Nacht die Rede. Dieser Realitätsverlust wird dem Polizei-Präsidenten Wolfgang Albers zum Verhängnis. Er muss gehen. Er beteuert bis heute, schon bei den ersten Berichten habe er die Gefahr erkannt, dass die Flüchtlingspolitik in Verruf gerät. NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft reagiert erst am 5. Januar – nur schriftlich.
Von Abschiebungen ist schon die Rede
Am selben Tag antwortet Innenminister Thomas de Maizière (CDU) auf die Frage, ob die Polizei versagt habe, in den „Tagesthemen“, das frage er sich auch. „So kann Polizei nicht arbeiten.“ Das kommt einem Tabubruch gleich. Nicht die Kritik, aber die öffentliche Bloßstellung.
De Maizière lenkt die Aufmerksamkeit vom Bund auf das Land, von der Politik zur Polizei. Zehn Monate später ist in der Innenministerkonferenz vom Versagen keine Rede mehr, sondern von einem „unvorhersehbaren Phänomen“. Es ist die kollektive Selbstabsolution.
Das Kanzleramt ist am 4. Januar alarmiert. „Das Gefühl - von Frauen in diesem Fall -, sich völlig schutzlos ausgeliefert zu fühlen, ist auch für mich persönlich unerträglich“, sagt Merkel am 7. Januar. Sie fordert, es müsse alles auf den Tisch kommen. Von Abschiebungen ist schon die Rede. Man spürt eine Verhärtung. Für Hunderttausende unschuldiger Flüchtlinge ist der 1. Januar 2016 ein schwarzer Freitag, der Anfang vom Ende der Willkommenskultur.