Bochum. Der Gesundheitscampus Bochum feiert sich als Flaggschiff einer neuen „Medizinmetropole Ruhr“. Was passiert hier?
Kohleschwarze Fassade, feuerroter Eingang – das erste Gebäude, das auf dem Gesundheitscampus Bochum entstanden ist: eine Widmung an die Bergbau-Ära. „Etwas rückwärtsgewandt“, merkt Sven Frohwein von der Bochumer Wirtschaftsentwicklung im Halbscherz an. Der Campus in der Nähe der Ruhr-Uni soll schließlich der 14 Bundesliga-Spielfelder große Beweis dafür sein, dass die klassische Industrie längst nicht mehr das Sagen im Revier hat. Er ist das Zentrum für das, was schon jetzt die „Gesundheitsmetropole Ruhr“ genannt wird. Bislang ist das vor allem eine Marke der lokalen Wirtschaft – aber ist es auch schon die Realität?
Die Gesundheitswirtschaft hat die Industrie immerhin schon 2017 als größten Arbeitgeber im Ruhrgebiet abgehängt. Rund 340.000 Menschen, das sind 19,5 Prozent aller Stellen im Revier, arbeiten inzwischen im Gesundheitssektor – vor allem viele in der stationären und ambulanten Versorgung. In Bochum sind es sogar 20,3 Prozent der Beschäftigten.
6000 Beschäftigte in der Gesundheits-IT
„Dass die Gesundheitswirtschaft wächst, ist kein besonderes Phänomen“, bremst Uwe Kremer die Euphorie. Kremer ist Chef des Unternehmens und Vereins Medcon Ruhr, der sich die Vernetzung der Gesundheitswirtschaft im Revier auf die Fahne geschrieben hat. Die alternde Gesellschaft oder das wachsende Gesundheitsbewusstsein der Menschen sieht er dafür als Grund. „Das Besondere im Ruhrgebiet ist aber, dass wir viele spezialisierte Krankenhäuserhaben“, ergänzt Kremer.
Krankenhäuser gibt es auf dem Gesundheitscampus nicht. Eher aufstrebende IT-Start-ups. Die fallen in den Statistiken selten in den Bereich „Gesundheit“, sondern eher in die Sparte „Digitales“. Aber der Campus in Bochum mit seinen modernen Bauten, klinisch sterilen Flächen und den – teils marktführenden – jungen Unternehmen ist für die Wirtschaft nicht weniger als das Symbol für den hiesigen Siegeszug der Medizin.
Da ist einmal die Lage. „Wir sind hier zwischen Essen, wo man mit dem Universitätsklinikum in der Medizin sehr stark ist, und Dortmund, wo das Technologiezentrum sehr erfolgreich im Bereich der Biotechnologie ist. Bochum ist dann die Schnittstelle zwischen Technik und Medizin“, beschreibt es Netzwerker Uwe Kremer. 6000 Beschäftigte in der Gesundheits-IT gibt es laut Kremer inzwischen in der Region. „Fünfmal mehr als vor 20 Jahren.“
So lange ist es auch her, seit in Bochum die Grundsatzentscheidung gefällt wurde, einen Schwerpunktstandort für die Medizintechnik zu bilden.
Visus: Von 15 zu 200 Beschäftigten
Erst sollte hier ein „Bio-Medizin-Park“ entstehen. Aber – wie es häufig bei Großprojekten ist – verzögerte sich der Bau aus verschiedenen Gründen. Um trotz Geburtswehen irgendwann eine Bilderbuchgeburt für einen Medizinstandort zu vollbringen, warf Bochum 2008 bei einer Ausschreibung des Landes um einen Gesundheitscampus NRW seinen Hut in den Ring – 140 Millionen Euro schwer, Geld von Land, EU und Stadt. „Das Gelände war ja schon entsprechend für den Bio-Medizin-Park erschlossen“, erklärt Wirtschaftsförderer Sven Frohwein. Gesucht war ein Ort, an dem Land, Wissenschaft und Wirtschaft schnell zusammenkommen können.
Heute - übrigens auch nach vielen Jahren Verzögerung – ist genau dies das Markenzeichen des Gesundheitscampus. „Das Besondere ist, dass sich hier alle Standorte gegenseitig befruchten“, sagt Johannes Peuling, Geschäftsführer vom Bochumer Institut für Technologie, das Forscher an Unternehmen vermittelt. „Im Norden haben wir das Administrative, im Süden die Privatwirtschaft.“ Die Hochschule für Gesundheit, Gebäude der Ruhr-Uni-Bochum und Einrichtungen des Landes – wie das Krebsregister oder das Landeszentrum für Gesundheit – sind im Norden zu Hause, im Süden Unternehmen wie Optadata oder Verbände wie der Bundesverband selbstständiger Physiotherapeuten.
Roboteranzüge aus Japan
Aus der Zusammenarbeit der Nachbarn von Land, Wirtschaft und Wissenschaft sind seit Entstehung des Campus vor rund zehn Jahren eine Reihe an Projekten entstanden: „Ravis-3D“ erfasst die Umgebung per Radar und ermöglicht es Blinden so sich besser zu orientieren. „Train2Hear“ ist eine Plattform für Teletherapie bei Hörstörungen. Und mit „Cyberdyne“ wird ein Roboteranzug aus Japan in Bochum erprobt und vermarktet, durch den Querschnittsgelähmte wieder lernen können, sich zu bewegen. Das Lieblingsbeispiel von Medcon-Chef Uwe Kremer aber ist ein anderes.
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„Teils werden immer noch Bilder aus der Radiologie per Taxi von einem Arzt zum nächsten gefahren“, sagt er. „Beim Unternehmen Visus wurden Wege entwickelt, um die Bilddaten digital zu übermitteln.“Gestartet ist Visus vor acht Jahren mit 15 Beschäftigten. Dann wurde es fünf Jahre in der Brutstätte des Gesundheitscampus aufgezogen – kam hier an Investoren, konnte auf Labore und Experten zurückgreifen.
Jetzt hat sich Visus mit über 200 Beschäftigten auf dem Campus etabliert, ist Marktführer in seinem Bereich – weil, so begründet es Kremer, die Hardware an Kliniken nicht erst mühselig ausgetauscht werden müsse, um den Bildtransfer zu digitalisieren.
All das klingt nach einem wuseligen Ort, einen Ameisenhaufen an Forschern und Unternehmern. Aber an diesem Nachmittag ist es hier eher wie in einer Geisterstadt. Eine einzige Studentin sitzt mit einem Lehrbuch unter einem Baum am Nord-Campus. „Semesterferien“, erklärt Sven Frohwein. Aber an vielen Standorten scheint es wohl weniger die Häufigkeit, sondern die Exklusivität eines Besuchs zu sein, an der man den Erfolg fest macht. Etwa in der Aesculap-Akademie auf dem Süd-Campus.
Pläne für zweiten Gesundheitscampus
Die dortigen Berater assistierten früher im OP; heute beraten sie für den OP. Etwa ein Team aus Chefärzten, Fachärzten und Assistenten empfangen sie pro Tag, um sie über 8000 chirurgische Instrumente und Implantate zu informieren, die sich hier in den Vitrinen und Schränken befinden. Die Beratung für die OP-Ausstattung ist nicht das einzige Gebiet der Akademie, vor allem wird hier klinisches Personal weitergebildet. Oder es werden Räume für Unternehmer und Forscher vermietet – dann sind sie wieder zusammen, die Campus-Nachbarn.
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Offenbar läuft diese Vernetzung so gut, dass Bochum bereits über einen zweiten Gesundheitscampus nachdenkt. „Die Nachfrage nach Grundstücken ist höher als wir das mit dem ersten Campus befriedigen können“, sagt Sven Frohwein von der örtlichen Wirtschaftsentwicklung. Große Landesmittel stehen dafür allerdings erst einmal nicht zur Verfügung, dämpfte Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) vergangene Woche die Stimmung bei der Vorstellung seines neuen Mammut-Projekts, dem bundesweit ersten „virtuellen Krankenhaus“. Die Fachärzte in NRW sollen dadurch mehr digital vernetzt werden.
Auf dem Campus spitzt man schon die Ohren.
Das ist ein Artikel aus der digitalen Sonntagszeitung.