Herne. Für die einen: ein Alptraum. Für die anderen: die einzige Chance, die Zukunft zu meistern. Sie sind da, die umstrittenen Roboter in der Medizin.
Eine gewaltige, bleiche „Krake“ beherrscht den Raum. Sie schwebt über dem Tisch, auf dem der Patient liegt; ihre vier stählernen Arme haben sich geschickt in seinen Körper gebohrt; haben winzige, medizinische Instrumente an langen Stangen eingeführt; sich mit äußerster Präzision ihren Weg zum Ziel gebahnt; und dort ein Organ entnommen! Horror-Szene aus einem Science-Fiction-Film? Alltag im Herner Marien Hospital, 2018. Und nicht nur hier. In den OP-Sälen des Reviers hat die Zukunft bereits begonnen.
Fast immer, wenn eine „radikale Prostatektomie“ ansteht, die Entfernung einer (krebsbefallenen) Vorsteherdrüse, assistiert dem operierenden Urologen im Marien Hospital ein Roboter. DaVinci tauften ihn seine Erfinder. Rein-Jüri Palisaar ist einer seiner Fans.
Der Faden für die Naht ist keinen Millimeter dick
Der 48 Jahre alte Privatdozent ist Leitender Arzt für „Roboterassistierte Urologie“. Gerade sitzt er (ziemlich entspannt, in Socken) ein paar Meter vom OP-Tisch entfernt vor einem Teil, das er „Master“ nennt und das einer High-Tech-Spiele-Konsole ähnelt. Über deren Handgriffe und Fußpedale steuert der Urologe daVincis Krakenarme – während er das Geschehen im Inneren des Patienten zugleich über einen Bildschirm beobachtet, dreidimensional und in zehnfacher Vergrößerung; an Arm 3 des Roboters hängt eine Mini-Kamera. Arm 1, 2 und 4 bewegen zwei Klemmen und die Nadel, mit der der Arzt jetzt, da die kranke Prostata entfernt ist, eine neue Verbindung (Anastomose) zwischen Harnröhre und Blase schafft; ein frickliges, schwieriges Unterfangen. Der Faden, den der Arzt für die Naht verwendet, ist keinen Millimeter dick; der Bereich, in dem er arbeitet, „supersupereng, so wie der Zipfel einer Pommestüte!“
Und doch ist das Loch, das das entfernte Organ hinterließ, bald sauber (und mit beeindruckender Eleganz) geschlossen. Bleibt noch, die Schnitte rund um den Bauchnabel des Patienten zu vernähen. In vier Tagen wird der 59-Jährige die Klinik verlassen können. Und die kleinen Narben, fein in seine Hautfalten gelegt, werden ihn weit weniger belasten als eine offene OP – für Palisaar die einzige Alternative zur Roboter-gestützten Prostatektomie.
„Mir macht das keine Angst, ich will mir den angucken“
Seit zehn Jahren operiert der Herner Urologe zusammen mit einem daVinci, inzwischen mit dem zweiten Modell, einem gut 1,3 Millionen teuren „daVinci Xi“ der jüngsten Generation. Es wird nicht die letzte bleiben, glaubt Palisaar. Aus seiner Vision eines OPs der Zukunft sind Roboter nicht wegzudenken. „Nur kleiner werden sie 2050 sein“, hofft er.
Die Patienten, so scheint es, lieben daVinci bereits jetzt. Bis zu sechs Wochen müssen sie im Herner Marien Hospital auf eine von ihm gestützte Operation warten. Karl Laufs (Name geändert) ist morgen dran. Auch dem 70-Jährigen aus Wattenscheid muss die Prostata entfernt werden. Dass einem Roboter dabei eine zentrale Rolle zukommt, macht ihm keine Angst, er findet das „faszinierend“. Allerdings musste Dr. Palisaar ihm eines vorab versprechen: „Bevor die Narkose gesetzt wird“, sagt Laufs, „will ich mir diesen Roboterchirurgen kurz mal angucken“.
Es ist immer zu früh, bevor es plötzlich zu spät ist
Kritiker der Roboter-Chirurgie betonen, dass das daVinci-System eingeführt wurde, ohne dass Studien zuvor seine Vorzüge eindeutig bewiesen hätten. „It’s always too early until it’s suddenly too late“, kontert Palisaar: Es ist immer zu früh, bevor es plötzlich zu spät ist. Fortschritte in der Medizin seien stets nur erreicht worden, weil ein Mensch etwas wagte. Natürlich sei keine OP-Technik ohne Risiko, doch die Komplikationsrate sinke bei Roboter-Assistenz, betont der Mediziner. „Der daVinci ermöglicht es, die Vorteile des schonenden, minimal-invasiven Eingriffs mit denen der offenen OP-Technik zu kombinieren.“
Zukünftig, hofft Palisaar, könnte bei der Prostatektomie ein einziger Schnitt ausreichen, um alle benötigten Instrumente einzuführen, „vielleicht irgendwann sogar eine natürliche Körperöffnung“. In 30 Jahren würden OP-Roboter sicherlich auch Gewebestrukturen erkennen können, also sagen können: Dieses ist gutartig, jenes ist Krebs.
Mit Datenbrille am OP-Tisch
Am Essener Uniklinikum testen Dermatologen gerade etwas in der Art: das „3D-Arile-Operationssystem“, mit dessen Hilfe sich die Lage der Wächterlymphknoten bestimmen lässt – entscheidend bei Tumor-OPs. Über eine Datenbrille wird sie dem Arzt virtuell eingeblendet. Das mache Eingriffe „sicherer, schneller und treffsicherer“, sagt Dr. Ingo Stoffels, Oberarzt der Hautklinik.
Wird irgendwann der Roboter allein im OP stehen? „Davon sind wir Lichtjahre entfernt“, sagt Dr. Palisaar. „Der daVinci ist doch nur Instrument des Chirurgen.“ Zudem lege wohl kein Roboter dem Patienten tröstend die Hand auf die Schulter und verspreche: „Wird schon.“
Er ruft nach einer OP vermutlich auch nicht dessen Frau an, um ihr zu sagen „Alles gut gelaufen“ – wie Dr. Palisaar es nun tun wird.
Höchste Roboterdichte im Ruhrgebiet
Entwickelt wurde der daVinci – eigentlich für ferngesteuerte Operationen verwundeter Soldaten – von „Inuitive Surgical“ in Kalifornien. Die Firma erhielt 2000 die Zulassung für das System. In den USA werden heute fast 90 Prozent aller Prostatektomien Roboter-gestützt durchgeführt. Deutschlandweit sind rund 100 daVincis im Einsatz, auch in der Gynäkologie, Viszeral- und Herz-Thorax-Chirurgie oder im Bereich HNO. Einsatzquote bei Prostatektomien: rund 30 Prozent. Die höchste Roboter-Dichte findet sich im Ruhrgebiet : Ein Dutzend Kliniken hier operiert mit „Dr. daVinci“.
>>>Betreut von einer Maschine? Roboter in der Pflege
Witten. Japan hat das Thema längst abgehakt: Im technik-begeisterten Land der aufgehenden Sonne, wo schon 2025 eine Million Pflegekräfte fehlen werden, wird über Pflegeroboter nicht mehr diskutiert. Sie sind dort mehr als willkommen – spätestens seit Anfang des Jahrtausends eine kleine, süße Sattelrobbe ohne Hirn im Fuyo-En-Altenheim in Yokohama die Herzen der greisen Bewohner im Sturm eroberte. Kuschelroboter Paro brachte angeblich sogar seit Jahren verstummte Demente wieder zum Sprechen.
Hinter den Kulissen sind sie aber auch in Deutschland schon unterwegs: Fahrerlose Robotik-Systeme holen Essen für Patienten aus der Klinik-Küche und bringen es auf die Station; räumen später die Tabletts wieder ab. Andere sortieren Wäsche, analysieren Blutkonserven oder mischen Medikamente. Doch die Vorstellung, dass alten, kranken Menschen nur der Roboter als Freund bleibt, dass sie von einer Maschine gepflegt (gewaschen, gewickelt und gefüttert!) werden, ist hierzulande vielen eine schreckliche. Adelheid von Stösser, Vorstand des Kölner Pflege-Selbsthilfe-Verbandes, etwa warnt in einem Essay aus dem Jahr 2011 vor der „Entwicklung hin zu einer unmenschlichen Gesellschaft“. Sie zeichnet ein Schreckensszenario, in dem pflegebedürftige Menschen ohne Angehörige irgendwann sediert in riesigen Pflegesälen liegen, „betreut“ von Robotern. Nur wenige Bessergestellte haben noch Anspruch auf Einzelzimmer und menschliche Zuwendung. Es würde „das Ende unserer Kultur bedeuten“, fürchtet die Pflege-Expertin.
„Noch können wir mitgestalten.“
Allerdings wird auch in Deutschland die Zahl der Pflegebedürftigen steigen, einer Studie der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2012 zufolge: bis 2030 auf 3,4 Millionen. Selbst die jüngsten „Babyboomer“ werden dann 65 sein. Gleichzeitig nimmt die Zahl derjenigen, die sie pflegen können, ab: 2030 sollen auch uns 500 000 Vollzeitkräfte fehlen.
Prof. Jan Ehlers, Vizepräsident der Universität Witten/Herdecke und Experte in Sachen „Digitalisierung der Medizin“, sagt deshalb: „Die Frage ist nicht, ob wir Pflegeroboter wollen oder nicht. Sie werden kommen. Und noch können wir mitgestalten.“ Für seine Studenten – die der Medizin und die der Pflegewissenschaft – heiße das auch: sich schlau machen, das Feld nicht Physikern und Informatikern überlassen.
Ehlers ist 47, 2050 wird er 80. Und „natürlich missfällt mir der Gedanke, dass mich dann eine Maschine pflegt“, gesteht er. „Aber solange mir menschliche Ansprechpartner bleiben, Familie am liebsten...“. Virtuelle und reale Welt werden sich künftig vermischen, glaubt der Wissenschaftler. Es werde viel mehr „Mensch-Maschine-Interaktion“ geben als heute. Und was sei so schlecht daran, wenn ein Roboter einem Heimbewohner ein Glas Wasser brächte, ein mechanischer Laufbursche der Krankenschwester Botengänge zur Klinik-Apotheke abnehme, oder „eine neue Art Alexa“ im Haus des alleinlebenden, gebrechlichen Seniors im Notfall automatisch Hilfe rufe?
Studie zum „Krankenhaus der Zukunft“
An allen diesen Dingen wird im Übrigen im Revier längst geforscht; Soziologen der Uni Duisburg/Essen testeten im „Projekt WiMiCare“ Einsatzszenarien für Service-Roboter in Pflegeheimen (Casero und Care-O-bot). Das Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik (IML) in Dortmund startete jüngst eine Studie zum „Krankenhaus der Zukunft“. Im nicht-medizinischen Bereich werde die kluge Verknüpfung verschiedener IT-Systeme Lösung und Herausforderung zugleich sein, so Thomas Bredehorn vom IML; das und „cyberphysische Systeme“: mit Intelligenz ausgestattete Hardware – Blutproben-Boxen etwa, die selbstständig und rechtzeitig ihren Weg ins Labor finden und darauf achten, dass dabei die erforderlichen Bedingungen (Lagerung, Temperatur) eingehalten werden. Informatiker der Ruhr-Uni arbeiten an einem Roboter, der alten Menschen im Haushalt eine Stütze sein soll, indem er mit der Gebäudetechnik verknüpft wird sowie deren Gemütslage sowie körperliche Verfassung analysiert (Projekt Radio).
Mensch-Roboter-Teams
Apropos: Vor die Wahl gestellt „Pflegeheim oder Pflegeroboter?“, entschieden sich 83 Prozent derjenigen, die das Bundesministerium für Bildung und Forschung 2017 dazu befragte: für den Roboter!
Wer also wird sich kümmern um uns in der 30,40 Jahren? Jan Ehlers hofft, dass es „Pfleger und Pflegerinnen sein werden, die mit Begeisterung einen tollen Job machen und sich mit Digitalisierung super auskennen“; er hofft, dass ihnen Roboter oder Technik dann all das abnehmen, was mit schwerer körperlicher Arbeit und Dokumentation zu tun hat – und ihnen Zeit bleibt, für all das, was mit Emotion und Herzenswärme zu hat. Er denkt, es könnten „Mensch-Roboter-Teams sein. Und er fürchtet, „dass alles ganz anders kommt“.
In Japan übrigens arbeiten sie nun an Child Care Bots: Robotern, die Babys die Windeln wechseln.
>>>HAL lehrt Gelähmte gehen: Roboter in der Therapie
Bochum. Am Ende ist Harald Pötter nassgeschwitzt, durstig und glücklich: über die 449 Schritte, die er in der letzten halben Stunde auf einem Laufband im Bochumer Cyberdyne-Studio zurückgelegt hat. Kein Kunststück? Für Harald Pötter schon. Denn der 52-Jährige ist Paraplegiker. Querschnittsgelähmt, vom siebten Brustwirbel an abwärts. „Ein Hürdensprinter wird sicher nicht mehr aus ihm“, lacht Pötters Physiotherapeut Jörg Winkler, als er seinem Patienten zurück in den Rollstuhl hilft. „Aber ans Laufen bringen wir den Mann!“ Mit wir meint er sich – und HAL, den futuristischsten aller Gangtrainings-Roboter.
HAL steht für „Hybrid Assisted Limb“ und sieht aus wie ein Außengerippe mit Schuhen, es ist ein sogenanntes „Exoskelett“. Doch es bewegt den Menschen in ihm nicht rein mechanisch: Gesteuert wird der Roboteranzug neuronal, über Rest-Nerven-Impulse des Patienten. Hautsensoren an Beinen, Gesäß, Knie- und Hüftgelenken nehmen die Impulse ab; revolutionäre Technik hilft, sie in Bewegung umzusetzen. Erfunden hat HAL, natürlich, ein Japaner: Prof. Yoshiyuki Sankai. In Bochum fanden die weltweit ersten klinischen Studien statt – unter der Leitung von Prof. Thomas Schildhauer, dem ärztlichen Direktor des Bergmannsheils. Der Unfallchirurg schwärmte rasch von „dramatischen Verbesserungen“ und einer „deutlich gesteigerten Mobilität gelähmter Patienten“. Unmittelbar nach Abschluss der Testphase wurde 2013 die Cyberdyne Care Robotics GmbH (CCR) gegründet – zur europaweiten Vermarktung des „Roboter-Therapeuten“ Hauptgesellschafter ist der japanische Hersteller.
„Ein Moment der Unachtsamkeit und plötzlich ist alles anders.“
Harald Pötter trainiert seit fünf Wochen im „Zentrum für neurorobotales Bewegungstraining“ (ZNB) der Bochumer Firma. Keine vier Monate ist es her, dass er, am letzten Tag eines „herrlichen“ Italienurlaubs, mit seinem Motorrad verunglückte. „Ein Moment der Unachtsamkeit“, erinnert sich der zweifache Vater, „und plötzlich ist alles anders“. In der Klinik stellt er fest: „Es geht nichts mehr“, gerade einmal die Zehen kann er noch anziehen.
Und jetzt läuft er wieder! Langsam zwar und wacklig noch, gesichert durch Gurte, die von der Decke herabhängen, und an zwei Handläufen. Aber er läuft! Und die Verzweiflung der ersten Wochen ist der Zuversicht gewichen. Pötter trainiert mit Feuereifer. „Das ist ein Beißer, der will“, freut sich Jörg Winkler. Und verringert das „Sensibilitätslevel“, über das der Therapeut bestimmt, wie empfindlich die Sensoren reagieren, wie viel Beuge- oder Streck-Unterstützung der Patient noch benötigt.
„Das Gerät ersetzt die Physiotherapie nicht, es ergänzt sie.“
Winkler leitet das Therapie-Team im ZNB und weiß Dutzende sensationeller Erfolgsgeschichten zu erzählen. Aber er sagt auch: Nicht jedem kann die HAL-Therapie helfen. Und nicht jedem wird sie bezahlt. Nur die Berufsgenossenschaft trägt die Kosten von bis zu 30 000 Euro für die dreimonatige Reha in der Regel ohne Diskussion, private und gesetzliche Kassen entscheiden „fallabhängig“. Jemandem abzusagen, der ins Programm passt, sagt Winkler, sei „hart, jedes Mal“.
Dass ihm der Roboter bald den Job streitig macht, fürchtet er nicht. „Das Gerät ersetzt die Physiotherapie nicht, es ergänzt sie – wenn auch sehr effektiv.“ Auch Harald Pötter sagt, das „allein Heilbringende“ sei HAL sicher nicht. 2050, ahnt der Zahnarzt, sei das Exoskelett sowieso überflüssig. „Dann werden Querschnitts-Gelähmten Chips eingepflanzt, die Reizleitungs-Unterbrechungen überbrücken.“
Freunde dich mit einem Roboter an.
CCR-Geschäftsführer Taku Ishida erzählt, Prof. Sankai arbeite inzwischen an einem HAL-System, das sich mit Medikamenten oder Stammzellen-Therapie kombinieren lasse; versuche etwa, aus der Nase entnommene „olfaktorische Nervenzellen“ ins Rückenmark Gelähmter zu implementieren – und sie dann mit HALs Hilfe zu stimulieren. Wichtiger aber noch sei ihm, dass die Anzüge, die heute 14 Kilo wiegen (ohne Akku!), leichter würden, dass man künftig ohne Hilfe in sie schlüpfen könnte „wie in eine Jeans“. Denn eigentlich sei HAL nicht für Kranke, sondern für Alte und Schwache entwickelt worden. Die Menschen würden immer mehr und immer älter, erklärt Ishida. Was er „schön und schwierig zugleich“ finde. Entscheidend sei, dass sie möglichst lange auf eigenen Beinen stehen könnten.
Dass Roboter dabei helfen, dass sie „eine bessere Welt schaffen“ werden, sei sein großer Traum, sagt der Japaner, „solange der Mensch den Roboter kontrolliert.“ Jede andere Vorstellung sei gefährlich,“ aber eine solche Entwicklung doch zu verhindern. Skeptiker, die zweifeln, dass das gelingen kann, gelte es zu überzeugen. „Be a friend to a robot“, sagt er ihnen immer: Freunde dich einfach mit einem an.