Gelsenkirchen. . José Luis Castrillo, Vorstandsmitglied beim Verkehrsverbund Rhein-Ruhr, spricht über Ticketpreise, die Kosten nachhaltiger Mobilität und das Nahverkehrsvorbild Wien.

Ohne mehr Busse und Bahnen in unseren Städten ist die Verkehrswende in Deutschland hin zu einer umwelt- und klimaschonenden Mobilität nicht zu schaffen. Darin sind sich alle Experten einig.

José Luis Castrillo im Interview

Doch wie verbessert man den Öffentlichen Nahverkehr in unserer Region? Gibt es Vorbilder? Und wer trägt die Kosten, wenn der ÖPNV attraktiver werden soll? Darüber sprach Michael Kohlstadt mit José Luis Castrillo, Vorstandsmitlgied beim Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR).

Wenn Geld keine Rolle spielen würde im Nahverkehr und Sie drei Wünsche frei hätten, wo würden sie investieren?

Castrillo: Ins Angebot, ins Angebot und noch einmal ins Angebot. Mehr Strecken, mehr Fahrzeuge, mehr Personal, engere Taktungen – das sind die Schlüssel für eine nachhaltige Verkehrswende. Zur Wahrheit gehört aber auch: Kurzfristige Erfolge wird es nicht geben. Man braucht einen langen Atem, um notwendige Kapazitätserweiterungen umzusetzen, das ist nicht innerhalb von fünf Jahren lösen.

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Und wer soll das bezahlen?

Die Verkehrswende löst eine Stadt nicht für sich alleine. Das ist eine regionale Herausforderung. Wer mehr Nahverkehr will, muss sagen, wie man das finanziert. Und ich sehe zurzeit bei keiner Kommune im Revier freie Finanzmittel dafür. Vor zwei Jahren hat man in einigen Städten ja noch über Kürzungsszenarien gesprochen. Wir brauchen eine gemeinsame integrierte Verkehrsgestaltung für die Mobilität in unserer Region.

Was heißt das konkret?

Es muss zu einer integrierten Verkehrsplanung Hand in Hand zwischen Bund, Land und Kommunen kommen. Bund und Land müssen den Kommunen mehr finanzielle Spielräume verschaffen. Das kann nicht über höhere Tarife für die Kunden gelöst werden. Da stoßen wir definitiv an Grenzen, die wir heute schon merken. Die Finanzierungsfragen des ÖPNV können aber auch nicht durch das Gegenteil beantwortet werden. Durch Tarifsenkungen wird der finanzielle Druck nur größer.

Ticketeinnahmen von 1,2 Milliarden Euro

Der Gratis-ÖPNV bleibt als nur ein schöner Traum, mehr nicht?

Jede Idee muss langfristig finanzierbar sein. Beim VRR betragen die Ticketeinnahmen 1,2 Milliarden Euro jährlich mit Tendenz zu 1,3 Milliarden. Bundesweit liegen die Ticketeinnahmen im Nahverkehr bei rund zwölf Milliarden. Das wäre in etwa der Finanzierungsbedarf, den jemand stemmen muss, der Gratis-Nahverkehr will. Und man muss natürlich eins wissen: Wenn man damit rechnet, dass es durch Gratistickets mehr ÖPNV-Nutzer gibt, muss man vorher das Angebot ausweiten. Auch das muss finanziert und entwickelt werden. Gratis-ÖPNV würde also überhaupt nur funktionieren, wenn man das Leistungsangebot vorher erweitert. Denn schon heute fahren wir in Spitzenzeiten am Limit.

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Jahr für Jahr erhöht der VRR seine Ticketpreise. Warum eigentlich?

Der Finanzierungsbedarf im ÖPNV nimmt stetig zu. Die Haupttreiber sind die Investitionen in die Infrastruktur und die Personalkosten. Allein diese machen die Hälfte der Ausgaben aus. Daraus entwickelt sich dann die Tarifentwicklung. Unser Spagat ist: Der Tarif muss leistungsgerecht sein und gleichzeitig helfen, das System mitzufinanzieren. Natürlich können Tarife auch günstiger werden, wie das Sozialticket beweist. Das hat heute einen Anteil von 7,4 Prozent am VRR-Gesamtumsatz, weil das Land es fördert. Auch das Schokoticket für Schüler wird unter anderem durch Landesmittel unterstützt.

Bund und Land müssen helfen

Die Tickets werden also auch in Zukunft jährlich teurer?

Bei Tariferhöhungen stoßen wir natürlich an Grenzen. Überspitzt gesagt: Nahverkehr kann nicht teurer werden als Taxifahren. Der Kunde kann die von vielen gewünschte Verkehrswende nicht ausschließlich bezahlen. Hier müssen Bund und Land helfen. Es gibt schon heute einzelne Tarifsegmente, in denen wir Erhöhungen nicht mehr realisieren können.

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Ist das Tarifsystem zu kompliziert?

Ich kann nachvollziehen, dass unser Tarifsystem gerade auch für den Gelegenheitskunden sehr komplex erscheint. Hier wollen wir die Digitalisierung nutzen, um das System einfacher zu machen, etwa durch unser nextTicket auf Smartphone-Basis. Für den Stammkundenbereich aber, in dem wir 75 Prozent unserer Umsätze erzielen, sehe ich das nicht so. Als Stammkunde muss ich mich in der Regel nur einmal informieren. Und dafür haben wir sehr zielgerichtete Tarife. Außerdem decken wir einen Ballungsraum von knapp acht Millionen Menschen ab. Dafür haben wir im Grunde nur vier Preisstufen plus Kurzstrecke.

Warum sind es nicht nur drei?

Wir haben einen wichtigen Schritt gemacht und den Zuschnitt der Regionen vereinfacht. Bei der Preisstufe C gab es beispielsweise 172 Regionen, die haben wir auf 19 reduziert. Würde man die Zahl der Preisstufen weiter reduzieren, erzeugte das Preissprünge, die dann zu Ungerechtigkeiten führten.

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Viele Bürger schwärmen von Berlin, wo der Nahverkehr angeblich so viel besser läuft.

Ich glaube, man muss da unterscheiden zwischen Stamm- und Gelegenheitskunden. Auch im Berliner Nahverkehr läuft nicht alles perfekt. Sie gehen aber offensiv mit den Schwächen um. Dazu haben sie eine Imagekampagne entwickelt, die das Thema mit Ironie und einem Augenzwinkern aufgreift.

Wiener Modell hat Vorbildcharakter

Auch Wien gilt als vorbildlich im Nahverkehr. Warum?

Viele in der Branche reden derzeit über das Wiener Modell. Dort gibt es seit einigen Jahren ein 365-Euro-Jahres-Ticket, so wie es jetzt auch die Stadt Bonn plant. Zuvor kostete das Jahresticket 450 Euro. In Wien ist man dabei dem Grundgedanken gefolgt, zuerst das Nahverkehrsangebot zu erweitern und erst danach günstige Tickets einzuführen. Ein Push-Pull-Effekt. Und dann wurde auch das Parken in Wien verteuert. Das Wiener Modell hat heute Vorbildcharakter, was ein umweltfreundliches Mobilitätsangebot angeht. Fahrpläne spielen wie in Berlin fast keine Rolle mehr, irgendwas fährt immer.

Wie hat sich das auf die Nutzung der unterschiedlichen Verkehrsträger ausgewirkt, den sogenannten Modal Split?

Erstaunlich ist: Eine deutliche Verschiebung der Anteile am Gesamtverkehr hat es in Wien nicht gegeben. Allerdings hatte der ÖPNV in der österreichischen Hauptstadt auch vor der Einführung des 365-Euro-Tickets schon einen hohen Anteil von 38 Prozent. Dieser Anteil hat sich auch nach Einführung der Vergünstigung nicht verändert. Eine Verbilligung heißt also nicht automatisch, dass mehr Menschen mit Bussen und Bahnen unterwegs sind. Irgendwann stagniert die Entwicklung halt. Immerhin: In Wien bleibt die Zahl der Pkw seit Jahren konstant, obwohl die Einwohnerzahl wächst.

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Das Revier könnte also viel von Wien lernen?

Sicher. Auch über die Finanzierung. Am Wiener Modell ist sehr spannend, dass die Kommune die Möglichkeit hat, zweckgebunden Mittel aus der Parkraumbewirtschaftung in den ÖPNV-Ausbau umzuleiten. Erlöse aus Parkscheinen, öffentlichen Parkhäusern, Parkuhren und Anwohnerausweisen wurden konsequent den Wiener Linien zur Verfügung gestellt. Es fällt auf, wie schwer es ist, über solch ein Modell in Deutschland nachzudenken. Es ist vielmehr ein Wettstreit um das billigste Parken entstanden. Die Frage, wie hoch die Kosten fürs Parken seien dürfen, ist ein schwieriges Thema. Einnahmen in den Ausbau des Nahverkehrs einfließen zu lassen, wäre eine Option.

Leistungsangebot im ÖPNV erweitern

Das wäre im Ruhrgebiet nicht möglich?

Wir haben auch im Ruhrgebiet Parkraum-Einnahmen der Städte in nicht unerheblichem Rahmen. Es geht um den Push-Pull-Effekt: Man muss das Leistungsangebot im ÖPNV erweitern, es natürlich attraktiver gestalten. Es muss eben ein Umdenken an vielen Stellen entstehen. Wenn man das nicht angeht, wird man die Verkehrswende nicht schaffen. Unser Leistungsangebot muss attraktiver werden. Wir müssen in Richtung Wien und Berlin denken, wo alle fünf Minuten und in den Hauptzeiten alle zwei Minuten Busse und Bahnen fahren. Das führt dazu, dass sie auch andere Zielgruppen erreichen.

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Das Ruhrgebiet ist nicht Wien oder Berlin. Können wir im Ballungsraum Rhein-Ruhr ähnliches erreichen?

Auch wenn es Unterschiede in der Bevölkerung, der Bevölkerungsentwicklung und auch der Siedlungsdichte gibt: Es leben ja hier die gleichen Menschen wie in Berlin oder Wien. Für viele Berliner stellt sich die Frage des Autos nicht. Langsam gibt es einen Wertewandel weg vom Auto als Statussymbol. Das muss man fördern. Das machen wir zum Beispiel mit dem NRW-weiten Semesterticket. Da waren wir Vorreiter in Deutschland. Auch beim Thema Fahrrad muss man mutiger vorangehen. Das heißt natürlich, ich muss an der einen oder anderen Stelle eine Spur wegnehmen. Wenn ich das eine attraktiver mache, hat das auch Auswirkungen auf die anderen. Wien hat es so geschafft, in einem Zeitraum von 20 Jahren den Modal Split zugunsten des Umweltverbundes zu wechseln.