Essen. Die Zahl der Rocker in NRW hat sich seit 2010 verfünffacht. In 70 Fällen wurden Schusswaffen bei geplantem Mord oder wilder Schießerei verwendet.

Wie gefährlich sind Rocker eigentlich? In Zeiten von islamistischem Terror, Neonazi-Gewalt und einem täglich aktualisierten Einbruchs-Radar scheinbar die belanglosere Seite der Kriminalität. Ein Normalbürger hat schließlich nicht täglich mit dem Rotlicht-Milieu zu tun, wo die Gangs Kneipen und Bordelle unterhalten, Besitzer „schützen“ und bei Gelegenheit unter Einsatz von Handgranaten auch gewaltsame Besitzerwechsel vornehmen. Und wo sie in den Drogen- und Menschenhandel und in Geldwäsche verwickelt sind.

Schweigen gilt in Rocker-Kreisen als Gebot

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Doch bedrohlich an den „Chapters“ und „Charters“ ist alleine schon, dass sie den Verdacht auf die Existenz einer Art Parallelwelt wecken. Polizeifahnder haben es nicht leicht, an Informationen zu kommen. Schweigen ist in den Kreisen ein Gebot, dessen Bruch sanktioniert wird.

So ist der Tod des vor mehr als drei Jahren verschwundenen und im Duisburger Norden geborenen Kai M. aus Oberhausen, dessen Leiche man in Einzelteilen aus dem Rhein holte, bis heute nicht aufgeklärt. Denkbar, dass er den geplanten Ausstieg aus der Hells Angels-Szene mit dem Leben büßen musste.

Steigende Mitgliedszahlen sind besorgniserregend

Was beunruhigt: Die Mitgliederzahlen der Rockerbanden sind seit 2010 gewaltig gewachsen. In NRW waren vor sieben Jahren gerade 520 Rocker aktiv. Heute sind es 2214. Auch die Zahl der Banden hat zugenommen. Das Landesinnenministerium nennt 92 Gangs an Rhein und Ruhr.

Am heftigsten: Zwar betonen viele Banden-Mitglieder, sie seien absolut harmlos und gingen nur dem Motorrad-Hobby nach. Das mag stimmen. Doch in diesen sieben Jahren ist es zu 70 Vorfällen gekommen, bei denen Rocker Schusswaffen eingesetzt haben. Zwei Tötungsdelikte und etliche Mordversuche sind darunter, teilweise auch Verletzungen Unbeteiligter.

Nicht wenige der Vorgänge sind unter dem Einfluss von Alkohol und Rauschgift passiert. So ist im Juli 2013 ein Führungsmitglied der Satudarahs bei Hünxe ziellos schießend durch einen Wald gelaufen. Regelmäßig sind Diskotheken, Wettbüros, Clubheime, Kioske das Ziel von gewaltsamen Überfällen. Gerne wird auf Fahrzeuge der Konkurrenz gezielt. 2014 ist der Filialleiter eines Oberhausener Supermarktes von Hells Angels beschossen worden.

Straftaten im Rotlicht-Milieu werden woanders erfasst

Der CDU-Abgeordnete Theo Kruse fragt solche Daten im Landtag regelmäßig ab. Die neuen Antworten liegen jetzt vor. Sie zeigen, dass die Repressionspolitik, die NRW-Innenminister Ralf Jäger und seine Vorgänger auf diesem Gebiet mit vielen Polizeieinsätzen und insgesamt neun Vereinsverboten seit dem Jahr 2000 gewirkt haben könnte. Die registrierten Gewalttaten gehen zuletzt zurück. Das Landeskriminalamt (LKA) glaubt zudem, „dass sich die Chapter und Charter in ihren Internetauftritten oft bedeutender darstellen, als sie in Wirklichkeit sind“.

Aber: Die eigentlichen Geschäftsfelder der Banden, das illegale Geldmachen im Rotlicht, wird offiziell gar nicht als solches gelistet. Objekte der Rotlichtszene mit Bezug zu Rockern würden „polizeilich nicht an zentraler Stelle erfasst“, bekam Kruse schon 2015 mitgeteilt. Und auch die Staatsanwaltschaften im Land haben die Mitglieder nicht namentlich im Visier. Sie operieren in einer Grauzone.

Viele Gruppierungen haben nur eine kurze Laufzeit

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Vielleicht, weil die Mitgliedschaft auch eine Art Saisongeschäft ist? „Bei rockerähnlichen Gruppierungen fällt auf, dass diese sehr schnell entstehen und sich ausbreiten, aber oft nach kurzer Zeit wieder verschwinden“, heißt es im jüngsten Lagebericht des LKA. Nach einigen aktiven Jahren auch im westfälischen Raum haben sich zum Beispiel die „Black Jackets“ und „United Tribunes“ 2015 selbst aufgelöst.

Die niederländischen Satudarah, die recht plötzlich im Raum Duisburg aufgetreten waren, sind verboten. Und neu in der Szene, jetzt schon immerhin mit 11 örtlichen Gruppen und 134 Mitgliedern, sind die meist türkischstämmigen Osmanen Germania. Sie sind politischer. Sie stellen „Schutztruppen“ für Kundgebungen von Erdogan-Befürwortern, sollen Verbindungen zu den rechtsextremen „Grauen Wölfen“ haben und es gibt Indizien für mögliche Drähte zu islamistischen Gruppen.

Bandidos sind sind in NRW am weitesten verbreitet

Weniger verändern sich regionale Schwerpunkte. Das Rheinland mit Köln ist Hells Angels-Terrain. Immer wieder tauchen Regionen wie Düsseldorf, Aachen und selbst das niederrheinische Goch in den Polizeiberichten auf, wo die Polizei erst jüngst Waffen, Drogen und sogar Molotow-Cocktails sichergestellt hat . Ein Indiz für die Brisanz der Szene hier: Seit Mitte letzten Jahres hat es im Rheinischen 14 von insgesamt 19 Schusswaffen-Zwischenfällen in NRW gegeben.

Das Ruhrgebiet ist fast fest in der Hand der Bandidos, die nach den neuen Regierungszahlen die Mehrheit der NRW-Rocker mit 785 Mitgliedern in 24 Motorrad-Vereinen stellen. In den nicht abgesteckten „Grenzgebieten“ wie dem westlichen Revier kracht es besonders oft. 2012 und 2013 war Duisburg zentrales Schlachtfeld zwischen den Banden Hells Angels, Bandidos und Satudarahs. Und auch der letzte gemeldete Fall von Januar 2017 war wieder einer aus Oberhausen. Ein Höllenengel wurde in seinem Auto gezielt beschossen.