Gelsenkirchen. . Rund 80.000 junge Zuwanderer werden bis Ende 2016 nach NRW kommen. Die Städte im Ruhrgebiet müssen umdenken: Schulschließungen werden gestoppt.

  • Rund 40.000 Flüchtlingskinder im schulpflichtigen Alter kamen 2015 nach NRW
  • Schulentwicklungspläne werden dadurch zu "Makulatur"
  • Bereits geplante Schulschließungen werden gestoppt

Die Landesregierung will verhindern, dass Schulklassen in NRW auch wegen der Aufnahme von Flüchtlingskindern zu groß werden. Nach einem vom Kabinett beschlossenen Entwurf dürfen Kommunen zusätzliche Klassen bilden, wenn Klassenobergrenzen überschritten werden.

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Das allerdings gelingt nicht überall auf die Schnelle: Viele Kommunen haben über Jahre Schulen verkleinert oder geschlossen. Seit die Zahl der Auffang- und Sprachförderklassen für Flüchtlings- und Zuwandererkinder steigt, haben Städte wie Hattingen oder Essen bereits geplante Schulschließungen gestoppt.

Stichtag für die Klassenzahlen ist bisher der 15. Januar. Künftig, so hat die Landesregierung entschieden, kann jeweils am 1. August nachgesteuert werden: Werden in einer Kommune nach gleichmäßiger Verteilung mehr als 25 Schulkinder zusätzlich registriert, so kann eine weitere Klasse gebildet werden. An Grundschulen liegt die Obergrenze bei 29 Schülern. Der Entwurf befindet sich in der Verbändeanhörung.

Bis Ende März gibt es aktuelle Zahlen

NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) reagiert mit diesem „Puffer“ auf die Klage der Lehrerverbände über zu große Klassen. Sie erwartet, dass auch in diesem Jahr rund 40 000 Flüchtlingskinder zusätzlich in die NRW-Schulen kommen; 40 000 wurden bis Dezember registriert. Bei knapp zwei Millionen Schülerinnen und Schülern im Land machen 80 000 vier Prozent der Gesamtzahl aus.

Trotzdem rechnet die Ministerin im Gegensatz zur CDU damit, dass nur wenige Schulen, die wegen sinkender Schülerzahlen geschlossen werden sollten, in Betrieb bleiben. „Es kann sich nur um Einzelfälle handeln, die man an einer Hand abzählen kann“, so Löhrmann. Bis Ende März will sie klären, wie sich die Zahl der Flüchtlingskinder auf die Klassengrößen auswirkt. 242 Millionen Euro plant das Land für zusätzliche Lehrerstellen ein.

Die Mehrheit der zugewanderten Kinder mit unterschiedlichster Vorbildung werde allerdings ein bis zwei Jahre lang in Auffang- oder Sprachförderklassen auf den Wechsel in ei­ne Regelklasse vorbereitet. Erst zu Beginn des neuen Schuljahres 2016/17 werden die ersten erfolgreicher Förderschüler in die Regelklassen wechseln.

Über Jahre haben Eltern, Lehrer und Lokalpolitiker teils heftig darum gestritten, welche Schulen ihrer Stadt bei sinkenden Geburtenzahlen eine Zukunft haben sollten. Ergebnis der Debatten waren penibel errechnete Schulentwicklungspläne für jede Stadt. Doch längst steht die Zukunftsplanung in einigen Ruhrgebietsstädten auf der Kippe, Gelsenkirchens Schuldezernent Manfred Beck bezeichnet sie gar als „Makulatur“.

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Seit 2013 stieg die Zahl der schulpflichtigen Kinder, die als Flüchtlinge oder Zuwanderer – mit und ohne Eltern – in die Stadt kamen, von 313 auf heute 1982 Mädchen und Jungen. „Wie viele in diesem Jahr noch ­dazukommen, ist nicht planbar“, sagt Beck. Das kommunale Bildungsbüro stimmt wöchentlich mit den 48 Schulen und Berufskollegs in der Stadt Gelsenkirchen ab, wo welche neuen internationalen Förderklassen eingerichtet werden können. 113 dieser Kleingruppen gab es Mitte vergangener Woche, bis gestern kamen drei neue hinzu.

Gelsenkirchen hat seit 2013 rund 10.000 Einwohner mehr

Wöchentlich erhält Beck die Zahlen jeder Schule; knapp die Hälfte der Förderschüler stammt aus Rumänien, Bulgarien oder Polen. 663 zugewanderte Kinder sind zurzeit in 37 Grundschulklassen integriert, nahe dem neuen Zuhause der Eltern. Die Älteren werden auf die fünf Gesamtschulen (18 Förderklassen), sieben Gymnasien (14 Förderklassen), Haupt-, Real- und Sekundarschulen sowie die drei Berufskollegs (12) verteilt.

„Bis 2013 mussten wir mit sinkenden Einwohnerzahlen planen“, so Beck. Seit 2013 kamen aber rund 10.000 Einwohner hinzu, heute leben 265.000 Menschen in Gelsenkirchen. „Wir mussten die Planung umstellen: von Schrumpfung auf Wachstum.“ Erste Konsequenzen sind beschlossen: Die Schließung von drei Hauptschulen wurde vorerst gestoppt, die Grundschulstandorte bleiben erhalten, werden teils erweitert oder neu gebaut, mindestens zwei Gesamtschulen werden erweitert.

Alle Kommunen in NRW müssen umplanen

Rund 40.000 Flüchtlingskinder im schulpflichtigen Alter kamen 2015 nach NRW, bis Ende 2016 erwartet das Schulministerium weitere 40.000. Insgesamt 5766 zusätzliche Lehrerstellen werden unbefristet besetzt, um die vielsprachige Schülerschar auf das Lernen in Deutschland vorzubereiten. Die meisten Lehrkräfte seien eingestellt, so der Sprecher des Schulministeriums, weitere sollen folgen.

Gelsenkirchen ist kein Einzelfall: In Bottrop werden 334 Schüler in 24 Förderklassen an allen Schulformen unterrichtet; 8700 Schüler gibt es insgesamt in der Stadt. Auch hier bleiben Schulstandorte, die aufgegeben werden sollten, vorerst in Betrieb. In Essen werden vier Grundschulen erweitert um Platz für 100 zusätzliche Kinder.

„Das hatten wir nicht auf dem Schirm“

In Bochum wurden in den letzten zehn Jahren 36 Schulen geschlossen oder mit anderen Standorten zusammengelegt. Weil die Zahl der schulpflichtigen Kinder seit Ende 2015 um rund 150 pro Monat steigt, hat der Rat beschlossen, 50 zusätzliche Klassen für alle Schulformen zu errichten, 25 davon in Containern, gemietet für fünf Jahre. „Dass wieder mehr Babys in der Stadt geboren werden und Flüchtlingskinder kommen, hatten wir bisher nicht auf dem Schirm,“ sagt Anette Eichler, stellvertretende Leiterin des Schulverwaltungsamtes. 650 zugewanderte Kinder gibt es hier in den Grundschulen, 850 an den weiterführenden Schulen – „genug für eine große Gesamtschule.“ Jetzt werde der Schulentwicklungsplan überarbeitet, bis Dezember soll ein Konzept stehen.

In Oberhausen besuchen 970 Schüler unter 18 Jahren zurzeit 42 Seiteneinsteigerklassen, bereits im Mai will der Rat einen neuen Bildungsplan verabschieden. In Mülheim werden 396 Seiteneinsteiger in 30 Förderklassen unterrichtet, auch hier wird in Kürze entschieden, ob eine eigentlich auslaufende Hauptschule als Teilstandort einer Realschule weiterlaufen soll.

„Die Chance nutzen“

Natürlich sei es schwierig, dass die Zahl der Schüler in der Stadt von Woche zu Woche steigt, findet auch Gelsenkirchens Schuldezernent Beck. Er sagt aber: „Wir wollen diese Herausforderung als Chance nutzen: Bisher war unsere ganze Planung auf Abbau und Schrumpfung eingerichtet. An Neubauten hat ja seit Jahren keiner zu denken gewagt.“

Jetzt aber müsse man die Schullandschaft zügig völlig neu gestalten: „Das bedeutet auch, dass wir allen Kindern und Jugendlichen in der Stadt angemessene Gebäude erstellen.“ Ob alle jungen Neubürger langfristig in der Stadt blieben, sei nicht entscheidend: „Wir müssen unseren jungen Leuten mit guten Schulen eine Perspektive eröffnen – für eine berufliche Zukunft hier oder zu Hause im eigenen Land.“