Budapest. An der serbisch-ungarischen Grenze ist kein Durchkommen mehr. Verzweifelte Flüchtlinge suchen nach Auswegen.

Dienstagmittag um 12.25 Uhr zeigt sich Europa auf der Autobahn M5 in Ungarn von einer unerbittlichen, hässlichen Seite. Der Lkw-Fahrer Avram Kudlicz bringt seinen Mehrtonner zum Stehen und lässt sich aus dem Fahrerhaus seines Fahrzeugs fallen. Am Grenzübergang nach Serbien reihen sich Lkw, Reisebusse und Autos. Seit ein paar Minuten hat Ungarn auch diesen Übergang abgeriegelt.

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Einige Lastkraftfahrer lehnen an der Leitplanke, rauchen und beobachten die Szenerie: Eine Hundertschaft schwergerüsteter Polizisten steht Spalier vor den mit Stacheldraht versehenen Barrikaden, die die Straße versperren. Parallel verläuft der drei Meter hohe und 180 Kilometer lange Grenzzaun, den die Sicherheitskräfte in der Nacht zuvor geschlossen haben. Avram Kudlicz stellt sich auf langes Warten ein. Er transportiert Kühlschränke. Doch die interessieren ihn gerade nicht. „Schauen Sie sich das an“, sagt er und zeigt auf die serbische Seite des Zauns. Auf den Feldern bauen Aktivisten Zelte auf, Flüchtlinge umklammern mit den Händen den Zaundraht. Es strömen immer mehr Hilfesuchende an die Grenze, die ihren Weg vor allem nach Schweden und Deutschland fortsetzen wollen.

Letzte Stellen im Stacheldrahtzaun geschlossen

Seit Dienstagnacht scheint das über die sogenannte Balkanroute, die über Serbien und Ungarn nach Österreich führt, schier unmöglich. Seither gelten in Ungarn verschärfte Einwanderungsbestimmungen. Wer illegal einreist, hat mit härteren Strafen und Haft zu rechnen. Die ungarische Regierung hatte bereits im Verlauf des Montags, früher als erwartet, die letzten Stellen im Stacheldrahtzaun geschlossen. Über Nacht riegelte die Polizei die beiden großen Grenzübergänge bei Röszek und Asothalom ab, die in den vergangenen Tagen Tausende Flüchtlinge überquerten. Inzwischen hat die ungarische Regierung den Notstand in den beiden südlichen Bezirken Bacs-Kiskun und Csongrad – wozu auch Röszek gehört – ausgerufen.

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Und ebenfalls am Dienstag wird bekannt, dass Ungarn auch an der Grenze zum EU-Nachbarland Rumänien einen Grenzzaun bauen will. Als Grund gab Ungarns Außenminister Peter Szijjarto laut der staatlichen Nachrichtenagentur MTI an, dass sich Schlepper nach der Schließung der ungarisch-serbischen Grenze Ausweichrouten über Rumänien suchen könnten.

In der Nacht kommen die Letzten durch den Zaun

Die Bilder von dem Auffanglanger in Röszek, in dem Sicherheitsleute Flüchtlinge wie Tiere füttern, passen nicht zu den Szenen, die die Nacht zu diesem Dienstag liefert. Die ungarische Regierung hatte ein Dutzend Busse bereitgestellt, um die letzten über die Grenzen tröpfelnden Menschen zum Bahnhof Röszek zu transportieren.

Der marode Bahnhof befindet sich umgeben von Maisfeldern und Waldflächen, unbefestigte Straßen führen zu der Station. Ungefähr einen Kilometer von dem kleinen Bahnhaus entfernt steht der Syrer Alan Havri vor einem der ausrangierten Reisebusse, in denen Flüchtlinge seit Stunden warten. Einige lagern auf dem Wegesrand in der Finsternis.

Alan Havri ist einer der letzten Flüchtlinge, die es vor der Grenzschließung nach Röszek in Ungarn geschafft haben. Er blickt in der Nacht zum Dienstag auf sein Smartphone und hat kein Verständnis für die Nachrichten, die er dort liest. Er will den Beweis führen, dass Merkels Entscheidung der Grenzkontrollen falsch war. „Ich bin mit meiner Frau und drei Kindern unterwegs. Wir haben Geld, sind gut ausgebildet. Warum also dürfen wir nicht nach Deutschland?“

In geordneten Bahnen

Der 40-Jährige versucht Bekannte, die noch auf der serbischen Seite sind, über das Smartphone zu warnen. Denn was geschehe, wenn Hunderte an die Grenze kommen und dort von der Polizei mit aller Härte zurückgehalten werden, dass könne man sich ja denken. Auch was geschehe, wenn der Frust der Geflüchteten irgendwann so groß wird, dass sie nicht mehr auf den Feldern mitten im Nirgendwo kauern wollen.

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Gegen 1.20 Uhr setzen sich einige Busse in Bewegung und scheppern zur Bahnstation. Um 3 Uhr fährt ein von der Regierung gestellter Zug in den Bahnhof ein. Alles verläuft in geordneten Bahnen. Mehrere Dutzend Polizisten bilden eine Schneise, durch die sie Menschen zu den Bahnwaggons leiten. Bus für Bus füllen sich die Abteile. Die Menschen gehen gebückt. Sie scheinen zu müde zu sein, um Freude, Leid, irgendeine Gefühlsregung zu zeigen. Sie lassen sich erschöpft auf die Sitze fallen. Einige blicken regungslos aus den Fenstern in die Nacht. Anderen sind die Augen zugefallen. Die Polizisten versorgen die Hilfesuchenden mit Wasserflaschen. Die Reise geht laut Aussage der Helfer, die in großer Zahl dort sind, nach Hegyeshalom, eine Gemeinde an der Grenze zu Österreich. Doch noch bis in die frühen Morgenstunden warten Busse gefüllt mit Hilfesuchenden an dem kleinen Bahnhof Röszek.

Die volle Härte des Gesetzes

Andere Flüchtlinge trifft noch in der Nacht die neue Härte des Gesetzes. Später ist von 60 Flüchtlingen in ungarischen Medien zu lesen, die den Grenzzaun unweit von Röszke aufgeschnitten hätten und sofort von der Polizei in Gewahrsam genommen wurden. Ein Sprecher des UN-Flüchtlingshilfswerks bezeichnet die neuen ungarischen Grenzgesetze als „wirklich alarmierend“. Er kritisiert die Rücksendung von Flüchtlingen nach Serbien, die Strafverfolgung von Asylsuchenden bei illegalem Grenzübertritt und die Entscheidung über Asylverfahren binnen weniger Stunden.

Auch auf serbischer Seite ruft die Grenzschließung viel Frust hervor. In den Sozialen Medien werden zahlreiche Bilder von Flüchtlingen im Hungerstreik verbreitet. Sie halten Schilder in die Höhe: No Food until open Border, steht darauf geschrieben. Kein Essen, bis die Grenze geöffnet wird.

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Über dem Grenzübergang an der Autobahn M5 kreist am Dienstagmittag ein Hubschrauber. Immer wieder marschiert eine neue Truppe von ungarischen Polizisten zu der hochgezogenen Barrikade auf der Straße. Auf der Wiese hinter dem Zaun stehen inzwischen ein halbes Dutzend Zelte. Ein kleiner Junge winkt mit einem Stock auf der serbischen Seite. Die Polizisten auf ungarischer Seite tragen Schlagstöcke und schwere Uniformen.

Helfer und Aktivisten

Zwischen den Wartenden, den Lkw-Fahrern, und den Journalisten, steht auch der Student Louis. Er sagt, dass er Aktivist für die Gruppe „Freedom not Frontex“ sei und aus Wien komme. Er hat sich in den vergangenen Tagen ein umfassendes Bild von der Lage gemacht, sagt er. „Man verliert langsam das Zeitgefühl, aber als wir vor zehn Tagen hergekommen sind, waren kaum Helfer hier“. Am Grenzübergang strömten die Menschen ins Land, hatten keine Unterkunft und übernachteten unter freiem Himmel. „Um sich zu wärmen haben die Leute in der Nacht alles Mögliche angezündet, Plastikflaschen, alles, was sie in die Hand bekamen“, erzählt er. Er ist sich sicher: „Auch wenn die Grenze jetzt dicht ist, die Leute werden es weiter versuchen.“ Dass die Regierung Orban nun auch einen Zaun zur Grenze nach Rumänien erwägt, erschwere die Situation nur. „Die Zäune halten niemanden auf, sie sorgen nur dafür, dass es mehr Verletzte und womöglich auch Tote gibt“, sagt der Österreicher.

Der Syrer Alan Havri ist in dem Zug an die österreichische Grenze. Er will weiter nach Schweden, weil er dort die beste Perspektive für seine Familie sieht. Doch um dorthin zu gelangen, muss er Grenzen zwischen Österreich, Deutschland und Dänemark überwinden. In diesen Tagen wird das schwer werden.