Berlin/Straßburg. Es sind deutliche Worte von EU-Kommissionschef Juncker in seiner Grundsatzrede zur Flüchtlingskrise: “Es fehlt an Union in dieser Europäischen Union“.
„Dies ist die Stunde der Ehrlichkeit“, verspricht Jean-Claude Juncker zu Beginn seiner Rede. Und die sieht so aus: „Es fehlt an Europa in dieser Union, und es fehlt an Union in dieser Union.“ Es ist der Satz, der hängen bleiben wird und alle aufrütteln soll, die angesichts des Bergs an Problemen auf Distanz zum Gemeinschaftswerk gehen. Junckers Kernbotschaft an diesem Dienstag ist eine Variante der Parole „Yes, we can!“, der Barack Obama seine Präsidentschaft verdankte. Wir Europäer könnten sehr wohl – wenn wir wollten und bereit wären, mehr einzusetzen.
Es ist Junckers erste Rede, in der er nach US-Vorbild vor der EU-Volksvertretung den „Zustand der Union“ auf den Punkt bringen will. So erfahren wie der langjährige Luxemburger Premier ist "in Europa" keiner, gegen den 60-jährigen Veteranen ist Angela Merkel fast noch EU-Lehrling. Doch in größeren Schwierigkeiten als derzeit hat er sein Herzensprojekt noch nicht gesehen: Zur nicht erledigten Schulden- und Wachstumskrise, dem Zerwürfnis mit Russland, der Bedrohung durch Dschihadismus kommt jetzt das Mega-Problem Völkerwanderung.
Juncker fordert "mutiges, entschlossenes, gemeinsames Handeln"
Schon fünfhunderttausend Flüchtlinge, sagt Juncker, hätten sich dies Jahr „nach Europa durchgeschlagen“, auf der Flucht vor dem Krieg in Syrien, dem Terror in Libyen, der blutigen Unterdrückung in Eritrea. Hunderttausende werden noch folgen. Beängstigende Zahlen? Davon will der Kommissionspräsident nichts wissen. „Es ist Zeit für mutiges, entschlossenes und gemeinsames Handeln der Europäischen Union, unserer Institutionen und aller Mitgliedstaaten.“ Vor allem gelte es, den Tugenden und Werten gerecht zu werden, auf denen die EU aufbaut: Humanität und und Menschenwürde.
Flüchtlinge in Deutschland Es ist ein Appell, wie ihn ähnlich zuletzt auch die Bundeskanzlerin mit Erfolg an ihre Landsleute gerichtet hat, nur dramatischer und streckenweise getragen von geradezu biblischem Zorn gegen Kleingeister und Egoisten, die ihre nationalen Brücken hochziehen wollen. Dabei machen Flüchtlinge in der europäischen Wohlstandszone gerade mal 0,11 Prozent der Bevölkerung aus, im Libanon hingegen ein Viertel. Da wird Juncker emotional: „Stellen Sie sich vor, das wären Sie - mit einem Kind im Arm, und die Welt drumherum bräche zusammen - Sie würden alles tun, jeden Preis bezahlen und versuchen, jede Mauer, jedes Meer und jede Grenze zu überwinden!“
In Europa war fast jeder mal Flüchtling
Abschottung ist aber nicht nur unmenschlich, sie ist auch geschichtsvergessen. Juncker erinnert an Hugenotten, Juden, Sinti und Roma, an fliehende Ungarn 1956 und fliehende Tschechen 1968, an die Entwurzelten nach dem Zerfall Jugoslawiens: „Europa ist ein Kontinent, auf dem im Laufe der Geschichte fast jeder einmal Flüchtling war.“ Wenn dieses Europa heute für viele Menschen im Nahen Osten und Afrika „ein Leuchtturm der Hoffnung und ein Hafen der Stabilität“ sei, habe man Grund, stolz zu sein und nicht furchtsam.
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Für den Mann im schwarzen Anzug ist der Auftritt am Podium des Straßburger Plenarsaals persönlich ein schwerer Gang. Er spricht langsam, stockender als sonst, zu Witzchen und Geplänkel mit Zwischenrufern ist er weniger aufgelegt. Ein paar Mal verliert er fast den Faden. Am Wochenende ist Junckers Mutter gestorben, der Vater liegt nach einem Treppensturz im Krankenhaus. Dass er dennoch erschienen ist, um die Lagebeurteilung des Brüsseler EU-Hauptquartiers selbst vorzutragen, wird nicht nur von Martin Schulz, seinem Freund auf dem Präsidentenstuhl des Parlaments, respektvoll vermerkt. Auch die meisten Fraktionschefs bekunden Mitgefühl.
Parlamentsgebäude für Flüchtlinge - Idee von Grünen und AfD
Was zu tun ist, um sich dem Flüchtlingsproblem auf breiter Front zu stellen, hat Junckers Kommission schon im Mai in einer „Migrationsagenda“ aufgeschrieben: gerechtere Verteilung der Lasten, Vereinheitlichung der Verfahren, wirksamerer Schutz der Außengrenzen, energischer Kampf gegen kriminelle Schleuser, mehr Kooperation mit den Herkunfts- und Transitländern.
Doch viele Regierungen ziehen nicht mit, versuchen stattdessen, den Andrang mit Zäunen und Grenzpolizisten zu stoppen. Im Sommer hat die Kommission wegen Verstößen gegen die europäischen Asylregeln Regeln 32 Verfahren gegen die Mitgliedstaaten eingeleitet, weitere sollen folgen. Vor allem um die Verteilung der Asylbewerber unter den EU-Staaten gibt es Streit, die Länder der EU-Ostflanke sperren sich. Doch die Kommission lässt nicht locker: Zur Rede ihres Chefs legte sie neue Vorschläge vor: Statt der im Mai angepeilten 40.000 sollen nun 160.000 Flüchtlinge zugeteilt werden. Auch den Zugang für legale Einwanderung will sie öffnen. „Ich hoffe, diesmal sind alle an Bord“, erklärt Juncker. Ein Stunde spricht er über das Thema Nummer eins, die anderen – Griechenland, Währungsunion, Ausbau der EU, Großbritannien – werden im Schnelldurchgang abgehandelt. An diesem Tag zählt nur die Flüchtlingspolitik.
Beifall kommt nicht nur von den Fraktionen der informellen „Juncker-Koalition“ aus Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberalen. Auch Grüne („einverstanden mit Junckers Ambitionen“) und die Linke („gute Schritte“) sind vorsichtig angetan. Die Grünen und AfD treffen sich überraschend in der Idee, das meist ungenutzte Straßburger Parlamentsgebäude mit Flüchtlingen zu belegen. Und der britische Europaverächter Nigel Farage liefert seinen Standard-Verriss ab und kündigt an, sein Land werde eine EU verlassen, die nicht für strammen Schutz an den Außengrenzen sorge. Juncker nimmt es mit Humor – „das einzige, was Farage und ich gemeinsam haben“.
Deutschland heißt Flüchtlinge willkommen
Merkel sieht Flüchtlingsfrage als Nagelprobe für Europa
Auch der Bundestag in Berlin debattierte am Dienstag über Hilfen für Flüchtlinge. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) warnte die EU-Partnerstaaten davor, mit einem Versagen in der Flüchtlingsfrage die Fundamente der Gemeinschaft zu beschädigen. "Wenn Europa in der Flüchtlingsfrage versagt, dann ginge ein entscheidender Gründungsimpuls eines geeinten Europas verloren. Nämlich die enge Verbindung mit den universellen Menschenrechten, die Europa von Anfang an bestimmt hat und die auch weiter gelten muss."
Merkel fordert Solidarität innerhalb Europas
Innerhalb Europas sei Solidarität bei der Versorgung der Flüchtlinge gefordert, bekräftigte die Kanzlerin in der traditionellen Generaldebatte über die Politik der Bundesregierung. "Insgesamt brauchen wir eine verbindliche Einigung über eine verbindliche Verteilung von Flüchtlingen nach fairen Kriterien zwischen allen Mitgliedsstaaten."
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In der innenpolitische Debatte über das geplante Milliardenpaket zur Flüchtlingshilfe rief Merkel nach Kritik aus den Bundesländern zur Kompromissbereitschaft auf. "Wir brauchen uns nicht gegenseitig die Schuld zuzuschieben, wer dies und jenes noch nicht gemacht hat." Die Bundesregierung berät am 24. September mit den Ministerpräsidenten. Aus deren Kreis wird unter anderem mehr Geld als zur Flüchtlingsunterbringung gefordert.
Ungarische Reporterin entlassen
In Ungarn sorgte ein tätlicher Angriff einer ungarischen Fernsehreporterin auf Flüchtlinge für Empörung. Auf Videos, die im Internet veröffentlicht wurden, ist zu sehen, wie die Kamerafrau an der ungarisch-serbischen Grenze einem Flüchtling ein Bein stellt, der mit einem Kind im Arm über ein Feld läuft - zusammen mit anderen Migranten. Anschließend ist zu sehen, wie der Mann samt Kind zu Boden fällt. Ein weiterer Ausschnitt zeigt, wie dieselbe Kamerafrau einem laufenden Flüchtlingsmädchen gegen das Schienbein tritt. Die Fernsehreporterin wurde von ihrem Arbeitgeber N1 TV entlassen. Der Sender steht der rechtsextremen Jobbik-Partei nahe. (mit dpa/Reuters)