Brüssel. . Das 40 Jahre alte Pannen-Atomkraftwerk Tihange knapp jenseits der Grenze soll im Herbst wieder ans Netz gehen. Einer der Druckbehälter war rissig. NRW-Landesregierung ließ bereits Jodtabletten verteilen.

Deutschland hat den Atomausstieg beschlossen. Doch nur wenige Dutzend Kilometer jenseits der Grenze zu Nordrhein-Westfalen steht nahe Lüttich in Belgien einer der ältesten Meiler Europas: das durch zahlreiche Pannen bekannte Atomkraftwerk Tihange. Experten halten das Kraftwerk für eine tickende Zeitbombe, in Block 2 des Kraftwerks wurden in einem Druckbehälter, in dem sich radioaktive Brennstäbe befinden, Tausende kleiner Risse entdeckt.

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Von Christopher Onkelbach

Sollten sich die Schäden ausweiten, drohe ein massiver Störfall oder gar eine Explosion, deren Folgen nicht nur Teile von Belgien und den Niederlanden betreffen würden, sondern wegen des vorherrschenden Westwinds auch weite Bereiche Nordrhein-Westfalens.

Reaktor-Mitarbeiter wegen Schlamperei entlassen

Tihange 2 liegt zwar seit März 2014 still, doch der belgische Betreiber Electrabel kündigte an, den Reaktor nach umfangreichen Prüfungen im Herbst wieder anzufahren. Die Reparatur- und Sanierungsarbeiten laufen. An dem Plan wird vermutlich auch die Entlassung von vier Mitarbeitern des nuklearen Kontrollraums vor wenigen Tagen wenig ändern, denen schlampige Arbeit vorgeworfen wurde. Die NRW-Landesregierung zeigt sich jedenfalls besorgt und wies vorsorglich die Kommunen im Grenzgebiet an, ihre Katastrophenschutz-Maßnahmen anzupassen.

Risse gelten als Anzeichen einer generellen Material-Ermüdung

Das Atomkraftwerk Tihange ging bereits im Oktober 1975 ans Netz. Immer wieder gab es Probleme, doch die mehr als 3000 entdeckten kleinen Risse sind nach Ansicht von Technikern von besonderer Qualität. Sie sprechen von einem neuen Phänomen der Materialermüdung durch die permanente radioaktive Strahlung, wovon auch andere Meiler betroffen sein könnten. Danach handelt es sich um „Fehleinschlüsse“ im Stahldruckbehälter, sogenannte Wasserstoff-Flocken (Hy­drogen Flakes), die das Material brüchig machen.

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Aus dem gleichen Grund wurde 2014 der Reaktor Doel 3 bei Antwerpen abgeschaltet. Der Betreiber ließ die Materialfehler von einem Wissenschaftlerteam überprüfen. Von deren Einschätzung hängt der weitere Betrieb der Meiler ab. Electrabel geht aber davon aus, dass die „Periode der Nichtverfügbarkeit“ von Tihange 2 und Doel 3, wie es etwas umständlich in einer Mitteilung heißt, am 1. November 2015 endet. Die Entscheidung obliegt der belgischen Atomaufsichtsbehörde Fanc.

Immer wieder neue Zwischenfälle

Immer wieder kam es zu Zwischenfällen an den betagten Kraftwerken. Ende des letzten Jahres löste eine Explosion am Reaktorblock 3 von Tihange einen Trafo-Brand aus, wonach der Reaktor zeitweise abgeschaltet wurde. In Doel überhitzten Turbinen, nachdem Öl ausgelaufen war.

Nicht nur Greenpeace forderte immer wieder, die Kraftwerke stillzulegen. Auch die Stadt Aachen und andere Kommunen in der Grenzregion stemmen sich gegen das Anfahren des Pannenreaktors. Die NRW-Landesregierung würde ein endgültiges Aus für Tihange ebenfalls begrüßen. Schon als 2012 technische Probleme in Tihange bekannt wurden, wendete sich das Land an das Bundesumweltamt mit der Bitte, sich dafür einzusetzen, Tihange so schnell wie möglich vom Netz zu nehmen.

Verschärfte Schutzmaßnahmen

Vor einem Jahr wurden von Düsseldorf schließlich die grenznahen Städte aufgefordert, die nach Fukushima verschärften Schutzmaßnahen umzusetzen. Zehn Millionen Euro gab das Land dafür aus, seither verfügt jeder Kreis über eine Dekontaminationsanlage, teilt das NRW-Innenministerium mit. „Wir wollen die Bevölkerung so gut wie möglich vor einem eventuellen Störfall schützen“, sagte ein Sprecher des NRW-Innenministeriums dieser Zeitung. Zudem sei NRW das einzige Bundesland, das sein Kontingent an Jodtabletten aus den Lagern des Bundes abgeholt und auf die Kreise verteilt hat. So sollen sie vor Ort schneller verfügbar sein.