Brüssel. . Griechenland und Ukraine, Terrorismus und Flüchtlinge: Wie Europa um seine innere und äußere Sicherheit ringt. Eine Analyse von Knut Pries.

Der jüngste EU-Gipfel sollte nach den Anschlägen von Paris eigentlich nur ein Zeichen der Entschlossenheit beim Kampf gegen dem Terrorismus setzen. Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so. Eine übernächtigte Bundeskanzlerin und ihre Kollegen mussten sich zusätzlich mit einem ganzen Knäuel eskalierender Groß-Krisen befassen: Russland, Griechenland, Flüchtlingstragödie. Und trotz der Erleichterung über das Abkommen „Minsk II“ – nirgends stehen die Zeichen wirklich auf Entspannung. Statt Bewältigung droht Überwältigung.

Wie viele Stunden wird Angela Merkel in den letzten Tagen geschlafen haben? München, Washington, Berlin, Minsk, Brüssel – man mag es gar nicht ausrechnen. Da hätte sich auch die Fliegerlegende Hans-Dietrich Genscher nicht zu schämen brauchen.

Europa in Turbulenzen

Näher kommt man an den Politiker-Traum der Allgegenwart nicht heran. Das ist freilich nicht nur ein Beleg für die beneidenswerte Zähigkeit der Kanzlerin. Es ist in erster Linie ein Zeichen für die Turbulenzen, in denen Europa steckt und die niemanden so fordern wie die EU-Stubenälteste und Führungsfigur Merkel.

Eigentlich wollte Donald Tusk, der polnische Präsident des Europäischen Rates, die Brüsseler Zusammenkunft am Donnerstag kurz und knapp halten. 13 Uhr Beginn, halb acht Abschluss-Pressekonferenz. Noch am Abend sind alle wieder zu Hause. Schön wär’s gewesen.

Schön ist es aber nicht. Nicht vor den Grenzen Europas im Osten und Süden, und auch nicht im Inneren des alten Kontinents. So wurde aus Donald Tusks Kompakt-Gipfel ein Parforceritt durch eine europäische Landschaft voller Brandherde.

Die Griechen-Krise

Erster Brandherd: Griechenland. Immer noch warten die Partner auf ein Konzept, wie genau sich die neue Regierung in Athen für das hoch verschuldete Land ein sozialeres, wachstumsfreundlicheres und finanzierbares Sanierungskonzept vorstellt. Vielleicht kommt es nächsten Montag. „Europa schafft es immer wieder, sich im letzten Moment zu einigen“, verkündet Finanzminister Yanis Varoufakis. „Das ist die europäische Erfolgsmethode.“

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Dabei hat der Grieche freilich vergessen, dass diese Erfolge üblicherweise nicht mit einem Schwertschlag durch den Gordischen Knoten, sondern mittels harter Detailarbeit errungen werden. Das hässliche Gespenst „Grexit“ – Hellas verlässt die Währungsunion – hat wieder deutliche Konturen bekommen.

Der neue Kalte Krieg

Brandherd zwei: Russland. Der finnische Regierungschef Alexander Stubb bringt es auf den Punkt: Die EU erlebt einen historischen Etappen-Wechsel: „Wir stehen am Ende des Endes des Kalten Krieges.“ In der Tat. Eine Epoche ist vorbei, selbst wenn die Einigung von Minsk hält und von Separatisten und Ukrainern respektiert wird. Der Deal markiert nicht die Rückkehr Russlands zur Partnerschaft mit dem Westen. Er stoppt bestenfalls das Blutvergießen.

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Aber er konsolidiert die weitgehende Abspaltung des Donbass und ist damit ein großer Schritt auf dem Weg zu einem weiteren „eingefrorenen Konflikt“, der den Fortgang des europäischen Einigungsprojekts bedroht.

Die Terrorgefahr

Brandherd drei: Terrorismus. Der demonstrative Schulterschluss nach den Anschlägen von Paris war eine politische Leistung. Im Vergleich zur Aufgabe, bei der Abwehr von Terror gemeinsam die richtige Balance von wehrhafter und freiheitlicher Demokratie zu finden, war er ein Klacks.

Schon schickt sich die Europäische Union an, bei der Einsammlung und Übermittlung von Fluggastdaten den gebotenen Datenschutz einem vermeintlichen Sicherheitsgewinn zu opfern.

Die Flüchtlingsmisere

Brandherd vier: Flüchtlinge. Erneut sah sich die Gipfel-Gemeinschaft genötigt, angesichts des Todes Hunderter Bootsflüchtlinge betroffen die Häupter zu senken.Die kollektive Unfähigkeit, diesem Übel beizukommen ist so jämmerlich wie das Ende der Ertrinkenden vor Lampedusa.

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Hinzu kommen jene brenzligen Entwicklungen, die kommende Gipfel beschäftigen werden: der drohende Abgang der immer weiter abdriftenden Briten und der stetige Kräftezuwachs der Populisten, Nationalisten und sonstigen Freunde einer „gelenkten Demokratie“ in zahlreichen EU-Mitgliedstaaten.

Ein Jahrzehnt lang, auf dem Weg zum Lissabon-Vertrag, hat sich die EU institutionell und konstitutionell mit der Frage befasst, wie gemeinsam sie sich einrichten will. Seit 2008 stellt sich das Problem auch handfest-praktisch: als Aufgabe, die Währungsunion zu reparieren und die Wirtschaftspolitik stärker zu integrieren.

Jetzt ist als weitere Notwendigkeit die innere und äußere Sicherheit hinzugekommen. Aus Angela Merkel und Francois Hollande hat sie ein politisches Paar gemacht. Für die EU als ganze ist bestenfalls offen, ob sie unter dem Druck von außen und innen enger zusammenfindet – oder ob sie zerbröselt.