Boston. . Das Verfahren gegen Dschochar Zarnarjew wird ein hartes Ringen um das Leben des mutmaßlichen Attentäters werden. Die Fakten auf einen Blick:

In Boston im US-Bundesstaat Massachusetts beginnt am Montag, 5. Januar, der bisher größte Terrorismus-Prozess in der Geschichte der USA. Die Staatsanwaltschaft macht den Studenten Dschohar Zarnajew für den verheerenden Bombenanschlag auf den Boston-Marathon am 15. April 2013 verantwortlich.

Der 21-Jährige soll gemeinsam mit seinem Bruder Tamerlan im Zieleinlauf der von Hunderttausenden besuchten Sportveranstaltung kurz hintereinander zwei aus Schnellkochtöpfen gebastelte Splitterbomben gezündet haben - getrieben unter anderem von islamistischen Rache-Motiven für US-geführte Kriege in der muslimischen Welt. Dabei starben drei Menschen, 270 wurden verletzt, 16 darunter verloren Gliedmaßen.

Während ihrer Flucht erschossen die Brüder mit tschetschenischen Wurzeln, die mit ihren Eltern 2003 als Flüchtlinge in die USA gekommen waren, in Boston einen Polizisten. Tamerlan Zarnajew (26) wurde bei einer Verfolgungsjagd mit der Polizei getötet, Dschohar kurz darauf im Vorort Watertown schwer verletzt festgenommen. Der scheidende US-Verteidigungsminister Eric Holder hatte vor einem Jahr den Weg freigemacht für die Todesstrafe. Zarnajews Verteidiger-Team plädiert dagegen auf: nicht schuldig. Das Wichtigste auf einen Blick:

Warum geht der eigentliche Prozess voraussichtlich erst in einigen Wochen los?

Die Auswahl der Jury wird diesmal mit Argusaugen verfolgt. Der Fall findet vor einem Bundesgericht statt. Das heißt, die Geschworenen entscheiden am Ende auch über das Strafmaß: entweder Todesstrafe oder lebenslänglich ohne Bewährung. Freispruch ist ausgeschlossen. Zarnajews Anwälte glauben, ihr Mandant sei im Prinzip schon zur Giftspritze verurteilt - durch die öffentliche Meinung. Sie werden bei der Zusammenstellung der Jury jedes Detail auf die Goldwaage legen.

Wie geht die Verteidigung vor?

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Die von der auf Todesstrafen-Fälle spezialisierten Anwältin Judy Clarke angeführte Riege hatte bis zuletzt auf eine Verlegung des Verfahrens nach Washington DC gedrängt. In Boston, wo neben den Opfern am Zieleinlauf und ihren Angehörigen Hunderttausende von Ausgehverboten während der spektakulären Fahndung nach den Attentätern betroffen waren, sei es unmöglich, zwölf unvoreingenommene Bürger für die Geschworenen-Jury zu gewinnen, sagte sie. Meinungsumfragen im Großraum Boston hatten zuletzt eine Mehrheit pro Todesstrafe im Fall Zarnajew ergeben. Obwohl die „death penalty“ in dem liberalen Ostküsten-Bundesstaat seit 1982 abgeschafft ist. Zudem hat der neu gewählte Gouverneur des Bundesstaates, Charlie Baker, öffentlich bekundet, Zarnajew sei für ihn die lebende Person, die er am meisten „verabscheue“.

Gibt es Beispiele für eine Verlegung?

Zarnajews Anwälte berufen sich auf den Prozess gegen Timothy McVeigh. Dem Attentäter des Bombenanschlags in Oklahoma City 1995, bei dem 168 Menschen starben und 500 teils schwerste Verletzungen erlitten, wurde seinerzeit in das über 1000 Kilometer entfernte Denver im US-Bundesstaat Colorado verlegt. Mit der ausdrücklichen Begründung, nur so sei dem Angeklagten ein fairer Prozess zu ermöglichen. Im Fall Boston lehnt Richter George A. O’Toole Jr. einen Standortwechsel vehement ab. Ein Berufungsgericht gab ihm am Samstag in letzter Instanz grünes Licht.

Wie geht die Auswahl der Männer und Frauen vor sich, die über Leben und Tod zu entscheiden haben?

Im ersten Schritt werden aus einem Pool von fünf Millionen Einwohnern im Osten Massachusetts rund 1200 Kandidaten vorgeladen. Kriterien u.a.: US-Staatsbürger, mindestens 18 Jahre alt und nicht älter als 70, nicht vorbestraft, nicht psychisch krank, nicht persönlich durch das Attentat betroffen gewesen. Die Kandidaten müssen in Fragebögen Auskunft über ihre Kenntnisse der Tat, ihre Einstellung zur Justiz und zur Todesstrafe geben. Wer die Maximalstrafe ablehnt, wird auf Grundlage eines Urteils des Obersten Gerichtshofs, sofort ausgeschlossen. 600 potenzielle Geschworene bleiben nach dieser Phase übrig. Danach werden Dutzende zur mündlichen Befragung ins Gericht gerufen und anonym befragt. 70 Kandidaten bleiben übrig. Diese Zahl wird nach Auswahlgesprächen von Anklage und Verteidigung, die jeweils etwa 20 Personen ausschließen können, auf 12 plus 6 Ersatz-Geschworene verdichtet. Erst dann kann das Verfahren beginnen.

Was ist der Kern der Verteidiger-Strategie?

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Judy Clarke und ihre Mitstreiter werden Dschohar Zarnajew als Opfer seines von islamistischen Gedanken geleiteten Bruders Tamerlan charakterisieren, der nach anfänglichem Angepasstsein mit Amerika fremdelte und im Internet wie bei einem Aufenthalt in der Kaukasus-Republik Dagestan radikalisiert wurde. Zu diesem Zweck soll ein Nervenarzt als Zeuge gehört werden, der über die Kindheit Zarnajews in einer schwierigen Einwanderer-Familie berichten soll. Vater Ansor und Mutter Subeidat, die mit ihren Kindern in Bostons Universitätsvorort Cambridge lebten, fielen jeweils durch Hochstapeleien und Diebstahl auf. Eine Schwester hatte mit Drogen zu tun. Die Staatsanwaltschaft hält die Mitläufer-These für nicht stichhaltig. Vor seiner Festnahme hatte Dschohar Zarnajew in seinem Versteck, einem auf dem Gelände eines Privatmannes abgestellten Segelbootes, ein handschriftliches Vermächtnis hinterlassen: "Die US-Regierung tötet unschuldige Zivilisten", hieß es dort, "ich schaffe es nicht, so viel Böses zu sehen, das ungesühnt bleibt. Wir Muslime sind eins. Wenn man einen verletzt, verletzt man uns alle."

Ist Zarnajew seit seiner Verhaftung in Erscheinung getreten?

Der im Hochsicherheits-Gefängnis von Fort Devens in Ayer festgehalten Angeklagte erschien kurz vor Weihnachten 2014 zum ersten Mal bei einer gerichtlichen Anhörung. Er wirkte apathisch, trug einen Bart, folgte dem Geschehen aber ohne Zwischenfälle. Auf die Frage des Richters, ob er mit seinem juristischen Beistand zufrieden sei, entgegnete Zarnajew knapp: „sehr zufrieden“.