Boston. Vor einem Jahr explodierten beim Boston Marathon mehrere Bomben. Drei Menschen starben, 260 wurden zum Teil schwer verletzt. Von den psychischen Wunden ganz zu schweigen. Die Überlebenden sind noch immer traumatisiert - und der mutigste und bekannteste Retter trägt eine noch schwerere Last.
Das nennt man Ausdauer. Seit 16 Jahren, immer am dritten Montag im April, kommen die Morans aus dem Osten Bostons ins Herz der Stadt, um andere beim Durchhalten zu bewundern. Während Troy, Heidi Morans Ehemann, im Hobby-Tempo auf die Marathon-Strecke geht, sammelt sich der Rest der Familie entlang der Strecke, um Teilnehmer aus aller Welt anzufeuern. Kurz vor Schluss greift sich Troy Moran traditionell seine kleine Tochter Antonia und trägt sie wie eine Königin über die Ziellinie. Beklatscht von Verwandten und Freunden, die sich einen Stehplatz an der Boylston Street in Höhe Hausnummer 671 erdrängelt haben.
Wenn am 21. April wieder rund 35 000 Läuferinnen und Läufer in die US-Ostküsten-Metropole strömen, wird Heidi Moran weit weg sein. „Ich will das Schicksal nicht noch einmal herausfordern“, sagt die 41-jährige Grundschullehrerin und nippt mit bebenden Lippen am Kaffee. Wie durch ein Wunder überlebte sie mit ihrer Tochter und einer Nichte den schweren Bombenanschlag vom 15. April 2013, bei dem drei Menschen starben und über 260 zum Teil schwer verletzt wurden. Von psychischen Wunden ganz zu schweigen.
An der Boylston Street erinnert ein Jahr danach wenig an das Schlachtfeld von damals. Die sonnenblumengelb gestrichene Ziellinie auf dem Asphalt blättert ab. An einem Laternenmast vor dem Café Forum, wo ein Sprengsatz hochging, kleben verwitterte Stofftiere und vom Regen ausgewaschene Beileids-Telegramme. Am „Marathon Place“, einem Sport-Händler, erinnert nur ein unscheinbares Plakat im Schaufenster daran, dass wenige Meter entfernt die andere Bombe detonierte.
Hier hatte Heidi Moran beim 117. Boston Marathon mit den Kindern gestanden und auf Troy gewartet. Statt Troy kam der schlimmste Terroranschlag auf amerikanischem Boden seit den Attentaten vom 11. September 2001.
„Ein Haufen aus schreienden Leibern“
Nach der zweiten Explosion blickte Heidi Moran zitternd an sich herunter. Was sie auf dem Boden sah, geht ihr nicht aus dem Kopf. „Abgerissene Füße und Unterschenkel, riesige Blutlachen, ein Haufen aus schreienden Leibern, ein Gestank aus Angst und Entsetzen. Ich selbst wurde beschützt durch die anderen. Die Menschen standen so eng beieinander, dass die Bombensplitter nicht zu mir durchdrangen.“ Nach einigen Minuten entdeckte sie Tochter Antonia und ihre Nichte paralysiert auf dem Bürgersteig, bis auf „ein paar Brandflecken an der Jacke“ ebenfalls unverletzt. Stundenlang irrte das Trio durch die Stadt. Erst am Abend das Aufatmen. Troy Moran wurde weit vor der Ziellinie abgefangen. Er blieb unversehrt. Alle Morans blieben unversehrt. Äußerlich.
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In den ersten Wochen nach dem Anschlag schottet sich die Familie ab, sucht bei Freunden außerhalb Bostons Raum zum Nachdenken.
Was folgt, ist ein Jahr „auf der Achterbahn“. Mühsam eingeübte Normalität funktioniert tagelang. Dann plötzlich bringt die Erinnerung an den „großen Knall um kurz vor drei“ alles aus der Balance. Antonia, sagt sie, sei inzwischen erstaunlich stabil. Gemeinsam mit Papa Troy will sie beim Jetzt-erst-recht-Marathon am 21. April dabei sein und zeigen, dass sich „Amerika von niemandem einschüchtern lässt“. Ihre Nichte dagegen ist noch immer kaum fähig, ein normales Leben zu leben.
Was denkt Heidi Moran über die in den Islamismus abgedrifteten Täter, von denen einer, Tamerlan Zarnajew, bei einer Konfrontation mit der Polizei stirbt, und der andere, sein jüngerer Bruder Dschohar (21), im November die Todesstrafe zu gewärtigen hat? „Ich spüre keinen Hass“, sagt Heidi Moran und schluckt, „aber ich weiß auch nicht, was ich diesem Dschohar wünschen soll.“ Als Lehrerin stellt sie unbequeme Fragen: „Warum dieser Hass? Was hat Amerika falsch gemacht mit diesen Jungen, die aus Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion kamen und doch bei uns alle Chancen besaßen?“
Vielleicht hat der „Held von Boston“ eine Antwort: Carlos Arredondo. Ein kleiner, kräftiger Mann, der in seiner Heimat Costa Rica bei der Feuerwehr war und in Stierkampf-Arenen aufgeschlitzte Matadore aus der Todeszone zog. Am 15. April zog Carlos Arredondo Jeff Bauman in Boston aus der Todeszone. Dem 28-Jährigen, der am Zieleinlauf auf seine Freundin Erin wartete, riss die Bombe beide Unterschenkel ab. Ein Zeitungs-Foto, das um die Welt ging, zeigt Arredondo, wie er den leichenblassen Schwerverletzten im Rollstuhl zum Notarzt-Zelt transportiert und mit einem Riemen den blutenden Beinstumpf abbindet. Der Samariter mit dem Cowboyhut wurde zum (guten) Gesicht der Katastrophe. Bauman wäre sonst verblutet. Michelle Obama lud ihn ein, als ihr Mann die traditionelle Rede zur Lage der Nation hielt. Arredondo habe Mut bewiesen, sagte der Präsident, als andere die Angst packte. Wenn doch alles so einfach wäre.
Carlos Arredondos persönliche Tragödie
An diesem 17. März steht Carlos Arredondo auf einem Brachgelände im Süden Bostons, wundert sich über das Interesse des Reporters aus Deutschland und wartet auf das Startzeichen. In einem grünen Cabrio soll der 53-Jährige zum St. Patrick‘s Day die Parade der „Veteranen für den Frieden“ anführen. Arredondo zittert. Melida, seine Frau, legt schützend den Arm um ihn. Es dauert, bis er zu reden beginnt über den Augenblick, der sein Leben veränderte. „Ich hatte keine Handschuhe, um mich vor dem Blut zu schützen, aber niemand hatte Handschuhe. Und viele Menschen haben geholfen – wie ich.“ Und die Zarnajews? Arredondos Stimme stockt, hinter den Sonnenbrillengläsern werden Tränen sichtbar. Melida übernimmt. „Es waren Einwanderer wie wir. Wir haben das alles noch nicht verarbeitet.“ Carlos schläft viel, um nicht ständig an das Grauen zu denken. Es könnte sich mit seiner eigenen Tragödie vermischen. Als Amerika davon erfuhr, wurde das laute Land ganz still.
Vor zehn Jahren starb Arredondos Sohn Alexander im Irak. Der 20-jährige Marine-Infanterist kam im Gefecht um. Als der Vater die Todesnachricht erhielt, rastete er aus, erlitt schwerste Brandverletzungen. Zehn Monate Krankenhaus. Später sagte er, es sei ein Unfall gewesen. Kein Selbstmordversuch. Den unternahm der zweite Sohn, Brian. Depressionen nach dem Tod Alexanders warfen ihn aus der Bahn. Carlos Arredondo trägt die Fotos seiner Söhne in einem Amulett am Hals. „Wenn du im Leben alles verloren hast, hast du vor nichts mehr Angst“, sagt er heute, „darum war sofort klar für mich, dass ich Jeff da rausholen musste.“ Für Carlos Arredondo ist Jeff Bauman, der Schwerverletzte, wie ein dritter Sohn geworden. „Er gehört zu unserer Familie“, sagt Melida, „wir selber haben keine mehr.“ Carlos Arredondo wird vielleicht Taufpate, wenn Bauman und seine Verlobte Erin im Juli ihr Kind bekommen. Vorher treffen sie sich an der Boylston Street in Höhe Hausnummer 671. „Klar werde ich beim Marathon sein“, sagt Arredondo, „Boston braucht neues Selbstvertrauen.“