Berlin/Düsseldorf. . Geschichtslehrer in NRW müssen sich stärker als früher auf ethnisch gemischte Klassen einstellen und ihren Unterricht auf die Einwandererkinder abstimmen.

„Wir können Klassen, in denen jedes dritte Kind aus einer Zuwanderer-Familie stammt, nicht die deutsche Geschichte als gemeinsame Identität aufdrücken.“ Das sagte Peter Johannes Droste vom Landesverband der Geschichtslehrer. Und auch NRW-Bildungsministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) appelliert im Interview mit dieser Redaktion an die Lehrer, die „Vielfalt in der Klasse“ als „wichtige Erfahrung“ zu vermitteln.

In vielen Schulen sitzen bereits heute türkische Kinder der dritten Generation neben Kindern von EU-Einwanderern und Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem Nahen Osten: Während die Deutschen im kommenden Jahr an den 25. Jahrestag der Wiedervereinigung und den 70. Jahrestag des Kriegsendes erinnern, sitzen in manchen Klassen Flüchtlingskinder, die frische eigene Kriegserlebnisse zu verarbeiten haben.

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„Kein Thema darf grundsätzlich tabuisiert werden“

Das neue interkulturelle Lernen gelingt vielen Schulen bereits gut – auch wegen der wachsenden Zahl von Lehrern, die selbst aus Zuwandererfamilien stammen. „Wir dürfen aber auch nicht verschweigen“, räumt Droste ein, „dass es an einigen Stellen Probleme gibt: Es gibt Schulen, die das Thema ,Israel und Palästina’ weitgehend ausblenden, weil sie keine Konflikte schüren wollen mit Kindern, die im Elternhaus mit Sympathie für fundamentalistische Positionen aufwachsen.“ Löhrmann mahnt deshalb: Natürlich könnten Lehrer ihren Unterricht an die Zusammensetzung der Klasse anpassen – „aber kein Thema darf grundsätzlich tabuisiert werden“.

Die jüngste Initiative der Kultusminister für eine lebendige, vielfältige Erinnerungskultur, für den Besuch von Gedenkstätten und Erinnerungsorten, begrüßen die Geschichtslehrer in NRW – warnen aber vor falschen Hoffnungen: „Es reicht nicht, ab und zu Schock-Tourismus zu betreiben und zum Beispiel ein Konzentrationslager zu besuchen, wenn Geschichte im Alltag kaum noch eine Rolle spielt“, so Droste. „In vielen Familien wird zu Hause darüber einfach nicht mehr gesprochen.“ Junge Menschen schauten in die Zukunft. Es sei die Aufgabe der Geschichtslehrer, aber auch der Eltern, ihnen den Zugang zur Geschichte und zur eigenen Kultur nahezubringen.

Löhrmann: "Geschichtsunterricht darf nichts ausklammern" 

In wenigen Tagen endet das Gedenkjahr 2014 – mit der Erinnerung an den Mauerfall und den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Im kommenden Jahr geht es nahtlos weiter: 70 Jahre Kriegsende, 25 Jahre Wiedervereinigung. Julia Emmrich sprach mit der nordrhein-westfälischen Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) über den deutschen Gedenkmarathon, Fußballspielen an der Front und gemeinsamen Geschichtsunterricht für Mustafa und Marie.

Ganz ehrlich: Sind Sie ein bisschen gedenkmüde?

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Von Julia Emmrich

Sylvia Löhrmann: Nein, ich bin nicht gedenkmüde. Jeder Gedenktag ist ein Anlass, uns gesellschaftlich neu zu verständigen. Und angesichts der aktuellen Auseinandersetzungen um Flüchtlinge zeigt sich: Es tut gerade jetzt wieder Not.

Viele der Flüchtlingskinder, die in NRW in die Schule gehen, haben frische, eigene Kriegserfahrungen. Kann man ihnen da im nächsten Jahr guten Gewissens mit dem Kriegsende von 1945 kommen?

Löhrmann: Das wägen unsere Lehrerinnen und Lehrer sehr sensibel ab, wie und wann Themen in einer Lerngruppe behandelt werden. Da gibt es kein Einheitsmuster.

Deutschland ist ein Einwanderungsland. Wie schafft man ein „Wir“-Gefühl ohne gemeinsame Geschichte?

Löhrmann: Die Auseinandersetzung mit Geschichte kann ja gemeinsam erarbeitet werden. Auch die deutschstämmigen Jugendlichen haben heute oft keinen eigenen Anknüpfungspunkt mehr – etwa an den Ersten Weltkrieg.

Mehr als jeder dritte Schüler in NRW kommt aus einer Zuwandererfamilie. Warum sollten Sie sich für die Wehrmachtsverbrechen oder die Weiße Rose interessieren?

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Löhrmann: Sie sind Teil unserer heutigen Gesellschaft. Und es geht ja bei der NS-Geschichte oder auch beim Ersten Weltkrieg nicht mehr um persönliche Schuld, sondern um das Leben heute, die Verantwortung für das Jetzt. Ich habe vor ein paar Wochen im belgischen Ypern erlebt, wie berührt deutsche und englische Schülerinnen und Schüler über den Weihnachtsfrieden 1914 an der Westfront waren. Die deutschen und die britischen Soldaten stellten für ein paar Tage das Feuer ein, haben sich kleine Geschenke gemacht, miteinander Fußball gespielt und Weihnachtslieder gesungen. Die Jugendlichen hat das so bewegt, dass sie zwei Fan-Schals verknüpft und damit ein Denkmal geschmückt haben.

Gut, aber nehmen wir mal eine typische Hausaufgabe: Max und Marie sollen ihre Großeltern fragen, wie sie die NS-Zeit erlebt haben. Was machen Mustafa und Dilek?

Löhrmann: Sie können Menschen in ihrer Umgebung fragen, sie fragen aber vielleicht auch ihre Eltern und Großeltern, was sie über diese Zeit wissen und ihnen erzählen können. Oder sie fragen diese nach ihrer eigenen Geschichte. Die Vielfalt in der Klasse spiegelt sich dann in der Vielfalt der Erinnerungen. Das ist doch auch eine wichtige Erfahrung.

Die Zahl der Geschichtslehrer mit ausländischen Wurzeln wächst langsam - was können sie besser als ihre Kollegen ohne Migrationshintergrund?

Mittendrin in der Erinnerung: Schüler am Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin. 2015 jährt sich das Ende des 2. Weltkriegs zum 70. Mal. (Foto: imago)
Mittendrin in der Erinnerung: Schüler am Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin. 2015 jährt sich das Ende des 2. Weltkriegs zum 70. Mal. (Foto: imago)

Löhrmann: Lehrer mit Zuwanderungsgeschichte können Vorbilder und Identifikationsfiguren für Kinder mit ausländischen Wurzeln sein. Und für die ganze Klasse gilt: Diese Lehrkräfte erweitern, dank ihres kulturellen Kapitals, den Erfahrungsraum – zum Beispiel wenn es um das Kopftuch geht oder die Rolle der Türkei in Europa. Sie bringen eine neue Perspektive mit in die Klasse.

Der Geschichtslehrerverband sagt, es gebe in Nordrhein-Westfalen mittlerweile Schulen, die das Thema „Israel und Palästina“ ausblenden, weil sie keine Konflikte schüren wollen. Ist das richtig?

Löhrmann: Es geht im Geschichtsunterricht nicht darum, Außenpolitik zu betreiben. Es geht darum zu lernen, wie es zu solchen Konflikten kommt. Sicher kann es da auch mal Diskussionen geben – das hatten wir ja im Zuge des Jugoslawienkriegs auch schon. Und natürlich können Lehrer die Art und Weise, wie Inhalte behandelt werden, an die Zusammensetzung der Klasse anpassen. Aber kein Thema darf grundsätzlich ausgeklammert oder tabuisiert werden.