Essen. . Vorurteile und Benachteiligung in der Schule, Diskriminierung bei Bewerbungen – vielen Kindern türkischer Einwanderer bleibt der soziale Aufstieg verwehrt. Eine Studie untersucht, wie sie trotzdem Karriere machen. Dafür brauchen sie einen langen Atem, glückliche Zufälle – und eine „Tante Birgit“.

„Du wärst der erste Türke, der hier Abitur macht“, sagte die Deutschlehrerin in der zehnten Klasse zu ihrem verdutzten Schüler. Und drohte offen: „Du hast keine Chance, ich lasse dich durchfallen.“ Eine Klassenlehrerin lässt sich zu dem Satz hinreißen: „Naja, die kleinen Türkinnen, die werden ihr Abitur eh nicht schaffen.“ Ein Mädchen berichtet: „Ich habe meinen Lehrer angefleht. Sechste, siebte, achte Klasse, jedes Jahr bin ich zu meinem Klassenlehrer gegangen und habe ihm gesagt: Ich möchte auf die Realschule! Immer hieß es: Du wirst es nicht packen.“

Alle diese Schüler haben eines gemeinsam: sie sind Kinder türkischer Einwanderer. Und sie haben es trotzdem geschafft. Machten ihr Abitur, studierten, starteten eine Karriere und wurden Anwälte, Manager oder auch Lehrer. Nicht wegen einer guten Förderung, sondern gegen viele Widerstände.

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Erstmals Daten zu Erfolgsfaktoren und Hürden

Nur wenigen Kindern türkischer Familien gelingt der Aufstieg in Deutschland. Wie schaffen sie es? Welche Umstände haben sie gefördert und auf welche Hindernisse sind sie gestoßen? Darum ging es in dem Forschungsprojekt von Andreas Pott und Jens Schneider vom Institut für Migrationsforschung der Universität Osnabrück. Am Donnerstag stellten sie die Ergebnisse des von der Stiftung Mercator geförderten Projekts bei einer internationalen Wissenschafts-Tagung zum Thema „Türkisch-deutsche Wege zum Erfolg“ in Essen vor.

Pott und Schneider analysierten dafür die Lebensläufe von 94 Personen von der Kita bis zum Karriereeinstieg. Mit ihrer Studie wurden erstmals Daten zu Erfolgsfaktoren und Hürden bei der Integration von Kindern mit Migrationshintergrund erhoben, so die Stiftung.

Schulen zeigten kein Interesse an den Talenten

Dabei stellten die Autoren viele Gemeinsamkeiten in den Werdegängen fest: Die erfolgreichen Nachkommen türkischer Einwanderer berichteten alle davon, wie sie oftmals von der Schule alleingelassen oder bei Bewerbungsgesprächen benachteiligt und diskriminiert wurden. Ihre Schulen zeigten weder Interesse noch Glauben an die Talente der jungen Menschen. Andreas Pott: „Oft erkannten sie Fähigkeiten der Kinder nicht, ja mehr noch: Sie sahen die Förderung nicht einmal als ihre Aufgabe an.“ Vor allem an Gymnasien bemerkten sie diese Einstellung.

So sind die Lebensläufe von Umwegen und Schwierigkeiten geprägt. „Oft ist es – neben hohem persönlichen Engagement – dem Zufall zu verdanken, dass die Schüler das Abitur schafften.“ Etwa weil es eine hilfreiche Nachbarin gab oder eine „Tante Birgit“, die ein türkisches Mädchen jeden Tag nach der Schule besuchte, um ihre Hausaufgaben zu machen. Oder Eltern von Schulfreunden, die sagten: das kannst du doch! Jens Schneider: „Wer keine Tante Birgit hat, hat es schwer. Das Mädchen ist heute Juristin.“ Eine wesentliche Rolle spielen auch meist die Eltern oder auch die Geschwister.

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Vorteil im Ruhrgebiet: viele Gesamtschulen

Bei ihrem Vergleich mit den Regionen Berlin und Frankfurt bietet das Ruhrgebiet bessere Bedingungen für Bildungsaufsteiger, stellten die Wissenschaftler fest: „Dank der höheren Dichte von Gesamt- und Ganztagsschulen sind im Ruhrgebiet deutlich mehr Befragte auf eine Hochschule gelangt.“ Die Gesamtschule sei durchlässiger, gleiche Startnachteile besser aus und könne dadurch Wegbereiter für den beruflichen Aufstieg sein, sagt Prof. Pott. Auch die Hochschulen seien sich ihrer regionalen Verantwortung bewusst. „Sie sind besser eingestellt auf die Klientel aus Arbeiterfamilien und bildungsfernen Schichten. Hier ist das normaler, das merkt man.“

Angesichts der Ergebnisse sehen die Wissenschaftler die Bildungspolitik vor dringenden Aufgaben. So sollte die frühkindliche Förderung und der Ganztagsunterricht ausgebaut werden. Mehr Förderung und Aufmerksamkeit für Talente, Durchlässigkeit der Schulformen – auch nach oben. Und das Thema Diskriminierung in Schulen müsse angegangen werden.

Das türkische Mädchen, das seinen Lehrer so ausdauernd wie vergeblich angefleht hatte, machte am Ende ein sehr gutes Abitur – über Umwege.