Essen. Viele Schüler in NRW lernen kaum etwas über die Zeit nach 1945. Die DDR, die RAF oder der Nahost-Konflikt spielen im Geschichtsunterricht selten eine Rolle - weil die Zeit dafür fehlt. Das ärgert Lehrer, Wissenschaftler und sogar die Schüler selbst.
Wie lebten die Menschen in der DDR und welche Rolle spielte die RAF in der Bundesrepublik? „Das finde ich unheimlich spannend, aber in der Schule erfährt man leider nichts davon“, bedauert der 18-jährige Lennart Landsberg. „Uns fehlen 60 Jahre – über die Zeit nach 1945 erfahren viele Schüler in NRW kaum etwas im Geschichtsunterricht“, kritisiert der Oberstufenschüler, der im Vorstand der Landesschülervertretung NRW sitzt.
Mit dieser Meinung steht die Vertretung nicht alleine da. Auch Lehrer und Wissenschaftler üben scharfe Kritik an der inhaltlichen Gewichtung der Kernlehrpläne, die das NRW-Schulministerium aufstellt.
Das Problem wird durch das Turbo-Abi zusätzlich verschärft: „Viele Lehrer hängen mit dem Unterrichtsstoff schon nach zwei von drei Geschichtsjahren in der Sekundarstufe I so weit zurück, dass sie bis zur 10. Klasse nicht über die Zeit des Nationalsozialismus hinauskommen“, ärgert sich der Fachleiter des Klever Studienseminars, Lutz Küster (39). Der Vietnam-Krieg, der Irak-Krieg oder die Tschernobyl-Katastrophe kämen selbst in der Oberstufe nur vor, wenn der Geschichtslehrer dazu die Initiative ergreife.
"Die DDR taucht als eigenständiges Thema nicht auf"
Juniorprofessor Dr. Marko Demantowsky von der Ruhr-Uni Bochum sieht das Hauptproblem im Kernlehrplan Geschichte des Landes NRW: „Die DDR taucht als eigenständiges Thema gar nicht auf“, kritisiert der Geschichtsdidaktiker. Laut schriftlicher Vorgabe des Schulministeriums NRW gibt es von der deutschen Teilung direkt einen Sprung zum Zusammenbruch des kommunistischen Systems und der deutschen Einheit. „Wie sollen die Schüler verstehen, was die Menschen in den fünf neuen Bundesländern bewegt, wenn die Bindekräfte, die Widersprüchlichkeit und die Dynamik in der Gesellschaft nicht diskutiert werden“, zweifelt der Wissenschaftler, „was die Schüler heute erfahren, ist ein politisch korrektes, aber langweiliges Bild, das nicht den widersprüchlichen Alltag der DDR-Bürger in dieser Zeit verständlich macht.“
Ostdeutsche schütteln den Kopf über das Bild, das von der DDR in den Schulen NRWs, vermittelt wird, so Studienseminarleiter Küster, der künftige Lehrer ausbildet: „Ein Referendar aus Leipzig sagte mir, er sei erschüttert. Die gesellschaftlichen Aspekte würden auf das Stasi- und Spitzel-System reduziert. Dabei habe es auch ein unpolitisches Leben mit gewissen Werten gegeben.“
Aufarbeitung des Kalten Krieges fehlt
Die Kritik am Kernlehrplan geht gleichwohl weit über den Themenkomplex DDR hinaus: „Um die Gegenwart und die heutigen Probleme verstehen zu können, müssen die Schüler etwas über die Wirtschaftskrise der 70er Jahre und den Wandel vom Goldenen Zeitalter zum Zeitalter der Krisen erfahren“, so Juniorprofessor Demantowsky. Zudem fehle in der Zeitgeschichte eine ordentliche Aufarbeitung des Endes des kalten Krieges. „Dieses Ereignis hat viel mehr bedeutet als nur den Zusammenbruch des kommunistischen Systems – eine ganze Weltordnung hat sich völlig verändert. Die Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA, der Irak-Krieg und viele weitere Ereignisse aus den vergangenen zwei Jahrzehnten wären ohne diese tiefgreifende, globale Veränderung überhaupt nicht denkbar gewesen“.
Den Wunsch des Schülervertreters Lennart Landsberg nach mehr Informationen über die RAF kann Küster aus seiner Praxis als Lehrer am Amplonius-Gymnasium in Rheinberg gut nachvollziehen: „An solchen Themen sind die Schüler sehr interessiert“, doch es fehle schlichtweg die Zeit. Während die Zahl der Geschichtsstunden seit den 70er Jahren um 40 Prozent abgenommen habe, seien viele wichtige zeitgeschichtliche Themen hinzugekommen, so Wissenschaftler Demantowsky. Dazu komme, dass die Jugendlichen durch die Schulzeitverkürzung G8 jünger seien und schon früh komplexe Themen wie die französische Revolution behandeln müssten.
"Lehrplan müsste entrümpelt werden"
„Und bei diesen Voraussetzungen wirft die Politik der deutschen Jugend mangelndes Geschichtsbewusstsein vor“, kritisiert Dominik Krister. Für den Geschichtslehrer am Gymnasium in Essen-Werden stimme die Gewichtung einfach nicht. „Der Lehrplan müsste endlich einmal entrümpelt werden“, fordert der 31-Jährige. „Den Nahost-Konflikt kennen viele Schüler überhaupt nicht, auch wissen sie nicht was die Sowjetunion ist – für viele ist das Jahr 1989 genauso weit weg wie 2000 vor Christus“, will Krister mehr Wert auf die Entstehung der Gegenwart legen.
Eine mögliche Lösung sei direkt mit der aktuellen Zeitgeschichte einzusteigen. Die Ereignisse aus den vergangenen Jahrzehnten seien wichtiger für die Schüler als die römische oder griechische Geschichte. Deshalb hat er begonnen, mit seinem Fachbereich einen schulinternen Schwerpunktlehrplan zu entwickeln. Da sollen die Griechen und Römer mit jeweils drei bis fünf Unterrichtsstunden und vielleicht einem Besuch im Archäologischen Park in Xanten abgehandelt werden. „Die ersten Erfahrungen sind sehr positiv“, will Kister einen maximalen Lernerfolg aus den lediglich zwei Wochenstunden Geschichtsunterricht herausholen.
"Lernergebnisse liegen auf der Höhe der Ratewahrscheinlichkeit"
Ein weiteres Problem sei laut Juniorprofessor Demantowsky, dass viele ältere Lehrer die 60er und 70er Jahre als Gegenwart erlebt haben. Deshalb fehlt ihnen dazu die wissenschaftliche Aufarbeitung – eine geschichtsdidaktische Fortbildung gebe es in NRW nicht, so der Juniorprofessor. Der 39-Jährige setzt deshalb auf die jüngere Lehrer-Generation. Dann werde wohl endgültig das Auswendiglernen von Daten und Meinungen wegfallen: „Die Lernergebnisse liegen auf der Höhe der Ratewahrscheinlichkeit, wenn es um das träge Wissen des verstaubten Bildungskanons geht.“
Schülervertreter Lennart Landsberg sucht sich seine Informationen zu den vergangenen Jahrzehnten übers Internet und Fernsehen zusammen. „Ich frage mich dabei aber immer wieder, ob das auch die komplette Wirklichkeit darstellt“, sagt der 18-Jährige, „ich finde es besser, wenn ich etwas zu den Themen objektiv im Geschichtsunterricht lernen könnte.“ „Der Schüler lechzt nach dem Geschichtsunterricht als Instanz der Vernunft“, kann Demantowsky von der Ruhr-Uni den Wunsch des Jugendlichen verstehen, „aber es gibt kein wirklich objektives Geschichtsbild – auch in keinem Unterricht, sondern lediglich ein aufgeklärtes, kritisches oder eben nicht aufgeklärtes.“
Deshalb läuft seit einigen Jahren eine bildungswissenschaftliche Debatte um das Thema Kompetenzen. Schule sei nicht mehr die Hauptagentur von Geschichtsbewusstsein und Geschichtsbild - es seien die Massenmedien sowie das familiäre und soziale Umfeld, erklärt der Wissenschaftler. „Die Schüler sollen sich deshalb im Unterricht historische Kompetenzen aneignen – wir können in den wenigen Stunden an Geschichtsunterricht nicht die Universität der Weltgeschichte adäquat rüberbringen – deshalb müssen die Schüler lernen, sich autonom ihre eigenen Themen zu erschließen und sich eine eigene Meinung zu bilden“, so der Junior-Professor.
Dem Schulministerium sind keine Probleme bekannt
In einer schriftlichen Stellungnahme erklärt das NRW-Schulministerium auf Anfrage von DerWesten, dass bislang keine Rückmeldungen über Probleme bei der Umsetzung der Kernlehrpläne vorliegen. Pressesprecher Jörg Harm verweist auf das Unterrichtziel, den Schülern verschiedene Kompetenzen zu vermitteln. Die Themenbereiche aus den vergangenen 60 Jahren könnten den vorgeschriebenen Inhaltsfeldern im Kernlehrplan zugeordnet werden – diese sind allerdings sehr allgemein gefasst und nur wenige Ereignisse wie etwa die Gründung der Bundesrepublik Deutschland werden konkret genannt. Zudem verweist das Ministerium darauf, dass sämtliche Inhaltsfelder für die Schulen in der Sekundarstufe I und II verpflichtend seien und dass verschiedene Themen auch im Politik- und Wirtschaftsunterricht behandelt würden. „Die Unterrichtszeit reicht aus und der Unterricht endet nicht mit dem Jahr 1945. Die Zeitgeschichte nach 1945 ist ein wichtiger Bestandteil des Unterrichts“, so Harm.
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Die Umsetzung der Ziele scheitert aber offenbar an der Basis. „Man bemüht sich nach Kräften, den Schülern etwas fürs Leben mitzugeben“, betont der Rheinberger Lehrer Küster. Trotzdem beantwortet er die Frage, ob die Jugendlichen nach dem Schulabgang genug über Geschichte und insbesondere die letzten 60 Jahre wissen, mit einem klaren „Nein“.